Thierry Smolderens und Alexandre Clérisses „Das Imperium des Atoms“ ist eine Hommage an die Science Fiction der 1950er und den Autor Cordwainer Smith.
Es sind ausgerechnet die Memory-Karten seiner Tochter, die in Paul Erinnerungen wachrufen – Erinnerungen an ein Leben voller irrwitziger Ereignisse, die rückblickend wie ein Traum erscheinen. Es ist 1964, und der Science-Fiction-Autor Paul, der mit seiner kleinen Tochter in Mexiko nach aztekischen Ruinen sucht, blättert nach und nach die verschiedenen Ebenen einer Erzählung auf, die von Shanghai im Jahr 1926 bis in eine ferne Zukunft reicht, mehr als 120.000 Jahre entfernt.
Wir begleiten Paul zurück in seine Kindheit als Diplomatensohn in China, sehen zu, wie er 1958 in Brüssel von in der Luft schwimmenden Tauchern mit riesigen Köpfen verfolgt wird. Wir springen fünf Jahre zurück und erfahren, wie Paul in Washington bei seinem Arbeitgeber, der CIA, auf einmal selbst Verdacht erregt: Er scheint besessen von der Forschung über das „Imperium des Atoms“ und führt ausufernde, verworrene Aufzeichnungen darüber. Ein paar Zeitebenen weiter landet er beim Psychiater in New York.
Wie zufällig aufgedeckte Memory-Karten fügt sich ein Erzählstrang an den anderen, während die Leser parallel zu den äußeren Ereignissen langsam eintauchen in Pauls innere Welt – die des Atomimperiums. Die hatte sich aufgebaut, nachdem er sich vor den traumatischen Missbrauchserfahrungen mit einem nymphomanischen Kindermädchen in die Abenteuer der Science-Fiction-Groschenhefte floh.
Damals begann der telepathische Kontakt mit Zarth An, einem heldenhaften General, der weit in der Zukunft lebt, wo er sämtliche Welten zu einem friedlichen Imperium wiedervereint hat und nun als Wächter über ein galaktisches Archiv Ahnenforschung betreibt. Paul soll ihm helfen, die Geschichte des Wegs der Menschheit durch die Galaxie zu rekonstruieren – was er dankbar annimmt. Seine geistigen Reisen ins All bieten ihm bis ins Erwachsenenalter eine willkommene Parallelwelt. Man könnte natürlich auch von einer deftigen Psychose sprechen.
Der etablierte französische Comic-Autor Thierry Smolderen und der junge Zeichner Alexandre Clérisse haben in „Das Imperium des Atoms“ die Biografie von Paul Linebarger (1913–1966) aufgegriffen, der unter dem Pseudonym Cordwainer Smith Science Fiction veröffentlichte. Linebarger war Professor für asiatische Politik an der Johns Hopkins Universität in Baltimore, CIA-Mitarbeiter, Regierungsberater Kennedys und Experte für psychologische Kriegsführung. Auch wenn sich der Titel des Comics auf A. E. VanVogts „The Empire of the Atom“ bezieht – die Story verwebt reale Elemente aus Linebargers Leben mit dem Hauptwerk von Cordwainer Smith, eine nichtchronologische Geschichte der Menschheit im All.
Bis heute wird spekuliert, ob Linebarger auch hinter dem Fall Kirk Allen steckt, den der US-Psychotherapeut Robert Lindner in den 1950er-Jahren beschrieb. Die Abhandlung „The jet-propelled couch“ – im Buch als Kapitel namens „Die düsengetriebene Couch“ eingebaut – handelt von einem Patienten, der sich in fernen Universen verloren hat. Lindner kurierte ihn, in dem er vorgab, ihm zu glauben.
Smolderen und Clérisse haben nicht nur eine liebevolle Hommage an Lineberger und die Science-Fiction der Fifties geschaffen. Sie verarbeiten mit der durchgeknallten Story auch den neuen Spirit, den der wissenschaftliche Fortschritt der 1950er-Jahre versprühte. Weltraumfaszination, Raktentechnologie und die Verheißungen eines neuen Atomzeitalters versetzten die Menschen in eine Aufbruchsstimmung nach der Kriegsmüdigkeit.
Mit glattem Artwork, pastellenen Farben und elegantem Schwung surft der Comic-Band gekonnt auf der Retrowelle, samt dem futuristischen Design und superschicken Interieur, das wir aus „Mad Men“ kennen. Die Zeichnungen pendeln dabei je nach Erzählebene zwischen Looney-Tunes-Optik, Pulp-Comics und Pop Art, die Zukunftsszenarien bleiben in vergleichsweise kaltem Schwarz-Weiß.
Die Euphorie des Nachkriegsbooms kippte bekanntermaßen allzu gern in Paranoia – eine entscheidende Triebfeder auch für die Science Fiction dieser Zeit. Und so mischt ein größenwahnsinniger Mogul namens Gibb Zelbub die Karten neu, als er Paul und eine Reihe weiterer kluger Köpfe entführt, um ihnen unter Hypnose Ideen für künftige Technologien zu entlocken. Mit dem Auftauchen des Bösewichts bekommt die Story nicht nur einen James-Bond-Einschlag, sondern lässt Realität und Fantasie endgültig verschwimmen. Und bringt vor allem Pauls Beziehung zu Zarth An gewaltig ins Wanken.
Der weitere Verlauf der Geschichte führt unter anderem noch nach Nucleopolis, die Insel Elektron und auf den dunklen Planeten Shayol – ein total überdrehter Trip durch Zeit und Raum, der irgendwie meistens schlüssig, aber immer absolut unterhaltsam bleibt.
Diese Kritik erschien zuerst am 17.12.2014 auf dem „Der Standard“-Comicblog Pictotop.
Karin Krichmayr arbeitet als Wissenschaftsredakteurin für Der Standard. Außerdem betreibt sie für die österreichische Tageszeitung den Comicblog Pictotop.