Standardwerk par excellence

„Vault of Horror“-Cover aus dem Jahr 1954 (© William M. Gaines Agent, Inc)

In Zeiten des realen Horrors nebenan scheint „Horror im Comic“ eine eher harmlose, gar frivole Veranstaltung. Aber der Horror nebenan, sprich der Krieg in der Ukraine, ist leider nur ein Horror unter vielen im letzten und diesem Jahrhundert. Das 20. Jahrhundert war geprägt von unvorstellbaren, einzigartigen Gräueln, von der Vernichtung von Menschenleben, von Körpern, von ethischen Standards, und das 21. Jahrhundert gibt bis jetzt nicht viel Hoffnung, dass sich daran etwas grundlegend ändere. Die Menschheitsgeschichte ist eine Gewaltgeschichte, die technischen Voraussetzungen für noch mehr Leid und Vernichtungsmöglichkeiten haben erschreckend zugenommen. Logischerweise reagieren auch Kultur und Kunst darauf. Auch die Kunst- und Literaturgeschichte ließe sich als die Geschichte von Gewaltdarstellungen schreiben. Nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg, nach dem Holocaust und nach Hiroshima, gesellt sich in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts der Horror-Comic zu dem Ensemble solcher Gewaltdarstellungen. Das ist der erkenntnisleitende Gedanke von Alexander Brauns kapitalem Band „Horror im Comic“, eine 450seitige, reich illustrierte und verlags- und publikationsgeschichtlich meistenteils blendend informierte Tour de Force durch Geschichte und Ästhetik des Horror-Comics und somit ein Standardwerk par excellence.

Horror als eigenes ästhetisches Genre

„Horror“, dekretiert Braun gleich am Anfang, „als ein eigenes ästhetisches Genre ist ein Phänomen des 20. Jahrhunderts. Vormals gab es bestenfalls Schauer- und Geistergeschichten, etwas, das wir heute meist als Gothic bezeichnen: Von der Schwarzen Romantik … über Edgar Allan Poes Erzählungen bis zu Bram Stoker und H. P.Lovecraft. Horror ist dagegen eine Nummer härter und impliziert häufig den gewaltsamen Verlust der Einheit des menschlichen Körpers: Gore und Splatter. Zerstückelte Körper und der Blick auf Eingeweide waren vormals in der westlichen Kultur eher eine reale Krisen- und Kriegserfahrung als ein Gegenstand der Unterhaltungsindustrie“ (S.7) – was zwar angesichts der Splatter-Orgien (avant la lettre) bei Homer, dem Häuten und Verstümmeln der antiken Mythen, den vielen Märtyrerdarstellungen des Christentums oder dem biblischen Kopfabgesäble von Artemisia Gentileschi bis Caravaggio nicht so ganz stimmt.

Doppelseite aus „Horror im Comic“ (Avant-Verlag)

Aber natürlich: Die Unterhaltungsindustrie kommt ab den 1950er Jahren ins Spiel, und damit werden derlei Schreckenskonventionen (die Braun natürlich alle kennt und auch diskutiert) sozusagen „demokratisiert“ – oder, je nachdem, „trivialisiert“ und damit moralisch diskreditiert. Von Beginn an, also seit ca. 1950, sind Horror-Comics immer wieder Gegenstand der Zensur. Braun belegt das einlässlich anhand der Verlagshistorie der EC-Comics (zunächst für Educational, dann sinnvollerweise für Entertaining Comics), die mit fröhlicher Wollust die Grenzen des „guten Geschmacks“ niedertrampelten und oft gerne mit blutigen Hackebeilchen und moddrigen Gestalten die Neurosen der weißen US-Nachkriegsgesellschaft als Horrorszenarien inszenierten. Kein Wunder, dass im McCarthy-Amerika die Sittenwächter auf den Plan traten, und derlei jugend- und moralgefährdendes Treiben zu unterbinden trachteten. Der „Comic-Code“ von 1954 war das Ergebnis, interessanterweise betrieben vom „United States Senate Subcommittee on Juvenile Delinquency“, zur Bekämpfung der Folgen von „Gewaltdarstellungen und Sexualität in den Medien, mit Schwerpunkt auf Crime- und Horror-Comics“ (S.77).

Die weitere Entwicklung der Horror-Comics kann man dann beschreiben als ständigen Versuch diesen Comic-Code zu unterlaufen, zu unterminieren und zu sabotieren und gar noch neuralgische Themen der Zeit wie Rassismus unter den kaum verschlüsselten Alltagshorror zu subsumieren. EC-Comics, die auch stets ökonomisch dachten, wurden zum Beleg dafür, dass zudem „Comic-Kunst subversiv und gesellschaftsrelevant sein konnte“ (S.95). Natürlich beschäftigt sich Braun nicht nur mit EC-Comics, sondern mit so ziemlich allen Playern auf dem amerikanischen Markt und mit deren künstlerischen Protagonisten. Das ist sehr sinnvoll, detailreich und macht den Prachtband auch zu einem nützlichen Nachschlagewerk.

Motive

Ab dann wendet sich Braun der Motiv- und Ideengeschichte der Horror-Comics zu, grob chronologisch geordnet nach dem jeweils dominanten Auftreten der verschiedenen Typen und Themen. Und da werden die Kategorien und Kriterien manchmal diffizil bis uneindeutig. Wo gehören die Bilder von Frank Frazetta hin – Fantasy oder Horror? Wie steht es mit Biestern from outer space? Horror oder SF? Sind Motive der fantastischen Literatur wie zum Beispiel Alberto Breccias genialer „Mort-Cinder“-Zyklus wirklich Horror oder gehören sie in ein ganz anderes geistesgeschichtliches Register? Wie explikativ, so darf man natürlich auch fragen, sind dann solche Kategorisierungen? Braun denkt alle diese künstlerischen Bearbeitungen von „übernatürlicher“, „unrealistischer“, symbolischer oder metaphorischer Gewalt zusammen, zu einer Art mundus horribilis in Bildern, in dem die Risse in der jeweiligen Realität die wirkliche, subkutane Konsistenz ausmachen. Eine Art geschlossenes Weltbild des Grauens. Mit allen geschichtsphilosophischen Implikationen und Aporien, die ein solcher Entwurf hat.

Werwölfe, Vampire, gemischte Monster und dann natürlich Zombies sind dagegen klare Fälle, motivgeschichtlich, ikonographisch und als Reflexe auf gesellschaftspolitische, moralische, sexuelle oder ideologische Positionen bezogen und diese jeweils herausfordernd und provozierend, je nach gesellschaftlichem Klima und gesellschaftlichen Positionierung. Letzteres wird besonders dann auffällig, wenn man nach Parametern wie Sexismus in der Darstellung von Frauen und überhaupt nach dem Anteil von Frauen unter den kreativen Köpfen der Horror-Comics fragt. Und auch über die gendermäßige Verteilung der Leserschaft hätte ich gerne mehr gelernt. Oder ob es, wie im Fall von Porno, eine bestimmte weibliche Ästhetik des Horrors gibt oder eben nicht. Was wiederum keine Frage der politischen Korrektheit ist, sondern mit dem oben erwähnten Bild einer geschlossenen Welt des Grauens zu tun hätte.

Doppelseite aus „Horror im Comic“ (Avant-Verlag)

Fumetti neri

In diesem Zusammenhang stehen zwei Highlight-Kapitel des Bandes. Ausführlich bespricht Braun die Fumetti neri der 1960er und 70er Jahre, eine ziemlich bizarre Kombination aus Horror und Pornographie, die im Nachkriegsitalien notorisch war und mit Reihentiteln wie „Diabolik“, „Kriminal“ oder „Satanik“ kultisch wurde. Gequält, geschunden, geschändet und sadistisch massakriert wurden meist nackte Frauen, nicht wie bei Pasolinis „120 Tage von Sodom“, sondern eher autotelisch, einvernehmlich misogyn, widerwärtig und ekelerregend. Und manchmal auch böse ironisch und manchmal auch brillant gezeichnet. Ein hemmungs- und maßloser Generalangriff auf alle Dogmen von Sitte und Anstand, die im katholischen Italien als Oktroy gelten konnten. Man tobte sich, auch gerne mit Schaum vorm Maul, aus. Für ein jugendliches Publikum die exzessive, absolute No-Go-Zone, und genau deswegen natürlich so glühend begehrt. Erst als kaum noch etwas übrig war, das man vielleicht noch besudeln konnte, ebbte dieser Boom ab, auch der Exzess kann langweilig werden, und feinere Geister wie Crepax oder Hugo Pratt fingen an, den italienischen Comic zu dominieren. Eine bemerkenswerte Position nahm dabei die von Tiziano Sclavi inspirierte Serie um den Privatermittler „Dylan Dog“ ein, die auf der Linie zwischen Crime Fiction und Fantastik (nicht unbedingt Horror, da wird´s schwierig, siehe oben) tanzte, ausgefuchst und intelligent und auch bei Leserinnen signifikant beliebt. Ein Füllhorn für Freunde hybrider Erzählstrategien. Leider hatte „Dylan Dog“ bei uns trotz einiger wagemutiger Versuche keine Chance. Was vielleicht auch auf die sehr deutsche Kommunikationslosigkeit zwischen den jeweils Populären Künsten zu tun hat, zumindest was die Sekundärbearbeitung angeht. Die jeweiligen Spezialst:innen bewachen eifersüchtig ihr Territorium, Grenzübertretungen werden misstrauisch beäugt und meistens ignoriert, was nicht gerade diskursfördernd ist. Anyway, „Dylan Dog“ hätte noch eine Chance auf dem deutschen Markt verdient.

Nippon Gore

Das zweite Highlight-Kapitel kümmert sich um „Nippon Gore“, es ist zumindest das Kapitel, von dem ich am meisten gelernt habe, möglicherweise auch deswegen, weil viele der genannten Beispiel-Comics hierzulande unbekannt sind. Aber faszinierend ist das alles schon: Braun weist auf die sehr eigenen Gewaltgeschichte Japans hin, auf historisch tradierte und teilweise immer noch gesellschaftlich akzeptierte Tötungsrituale wie Seppuku, aber auch auf rassistisch motivierte Gräuel wie das Massaker von Nanking, auf die Menschenversuche der „Einheit 731“, auf das Schicksal der „Trostfrauen“ (die Zwangsprostitution von Frauen aus von Japan besetzten Territorien – Korea, Indonesien, Taiwan, China etc.), eine Gewaltgeschichte, die bis heute nicht aufgearbeitet ist. Besonders bemerkenswert ist für Braun dabei, dass Japan, anders als der Westen, keine „Tötungskultur auf Abstand“ (S. 425) entwickelt hat, Töten ist in der japanischen öffentlichen Wahrnehmung immer noch „Stechen und Schneiden“ (ebd.). Das hat natürlich auch Konsequenzen für das eminent intensive Gewaltlevel japanischer Comics (nicht nur Horror-Comics, da aber per definitionem noch krasser), das aber per se nicht für problematisch oder subversiv gehalten wird.

Anders liegt der Fall, wenn sexuelle Aspekte ins Spiel kommen. Da gibt es einerseits eine tradierte Auseinandersetzung mit „dem Abartigen und Bizarren“, mit „durchaus anarchistischen Zügen“ (S. 447), die sich nicht nur in Filmen wie Nagisa Ōshimas „Im Reich der Sinne“ manifestierten, sondern sich auch in der Comic-Kultur des „Ero-Guru-Nansensu“ (Eros-Groteske-Nonsens) niederschlug, und ihrerseits an die sogenannten „Shungas“ anschlossen – Farbholzschnitte über Fesselung, Vergewaltigung und anderer Gewalttaten in erotischer Absicht. Ein verdrängter, aber stets präsenter Subtext, unter den Oberfläche der sittenstrengen, restriktiven und stockkonservativen offiziellen Moral. Dagegen setzte der „Nippon Gore“ seine Grausamkeiten, seine Gewaltexaltationen, bis durch die maßlose Überhöhung der eigentliche Kern der japanischen Gesellschaft – der auf Konformität getrimmte, streng hierarchisch strukturierte Turbokapitalismus – sichtbar wird. Ähnliches gilt auch für den spezifisch japanischen Sexismus, den die Comics ihrerseits auf ihren expliziten Kern, notfalls bis zur Koprophagie, herunterschälen.

Konzipiert ist Alexander Brauns Buch als Begleitband zu einer Ausstellung in Dortmund, die genauso empfehlenswert ist, wie die Lektüre dieses Thesaurus an Wissen und Kenntnissen.

Hier gibt es ein Interview mit Autor und Kurator Alexander Braun, hier eine weitere Kritik zum Ausstellungskatalog.

Dieser Beitrag erschien zuerst am 01.05.2022 auf: CulturMag

Thomas Wörtche, geboren 1954. Kritiker, Publizist, Literaturwissenschaftler. Beschäftigt sich für Print, Online und Radio mit Büchern, Bildern und Musik, schwerpunktmäßig mit internationaler crime fiction in allen medialen Formen, und mit Literatur aus Lateinamerika, Asien, Afrika und Australien/Ozeanien. Mitglied der Jury des „Weltempfängers“ und anderer Jurys. Er gibt zurzeit das Online-Feuilleton CULTURMAG/CrimeMag und ein eigenes Krimi-Programm bei Suhrkamp heraus. Lebt und arbeitet in Berlin.

Alexander Braun: „Horror im Comic“. Avant-Verlag, Berlin 2022. 456 Seiten. 49 Euro