Comics können das Unfassbare darstellen wie kaum ein anderes Medium – und werden zur Bildfläche für die Berichte der letzten Zeitzeuginnen und Zeitzeugen.
Nur schemenhaft zeichnen sich die Umrisse der Häftlinge auf dem Hof ab, erkennbar an den angedeuteten Streifen auf ihrer Kleidung. Sie scheinen sich träge zwischen den Baracken zu bewegen, aus wenigen Strichen skizziert, gebeugt, gesichtslos. Sie sind fast durchsichtig, verschmelzen mit dem Grau des Konzentrationslagers. Über der Szenerie, die eine ganze Seite des Buches „Aber ich lebe“ füllt, thront ein unwirklich blauer Himmel aus dicken, wilden Pinselstrichen.
Immer wieder versagt die Erinnerung von Emmie Arbel, einer von vier Holocaust-Überlebenden, deren Geschichten die Graphic Novel „Aber ich lebe“ aufzeichnet. Wenn die Worte schwinden, verschwimmen auch die Zeichnungen. Die grausamsten Ereignisse sind der 1937 geborenen Arbel jedoch ins Gedächtnis gebrannt. Mit viereinhalb Jahren wird sie mit ihrer Familie aus Den Haag deportiert. Ihr Vater stirbt wenig später in Buchenwald, die Mutter kurz nach der Befreiung aus dem Lager Bergen-Belsen. Sie selbst überlebt. „Ich weiß, dass ich stark bin“, sagt sie heute.
Die Comiczeichnerin Barbara Yelin hat in ihren Büchern bereits mehrfach Schlaglichter auf nicht so gut ausgeleuchtete Ecken der NS-Geschichte geworfen. Yelins Besuch bei Emmie Arbel in Israel bildet das Gerüst für die traumatischen Erinnerungen. Bei Kaffee und Zigaretten pendeln die beiden und damit die Leserinnen und Leser oft nahtlos zwischen Gegenwart und Vergangenheit hin und her.
Das Buch, zu dem auch Miriam Libicky und Gilad Seliktar gezeichnete Erzählungen von Zeitzeugen beisteuerten, ging aus dem Forschungsprojekt Narrative Art and Visual Storytelling in Holocaust and Human Rights Education hervor, das an der kanadischen University of Victoria angesiedelt ist. Das bisher einzigartige Projekt hat zum Ziel, Künstler, Wissenschafterinnen und die letzten Überlebenden zusammenzubringen. In Graphic Novels sollen deren Zeugnisse für folgende Generationen festgehalten werden.
Zwischen den Bildern
Doch was ist es, warum sich Comics – die unter dem Begriff Graphic Novel eine Brücke von der Pop- zur Hochkultur schlagen – so gut für die Aufarbeitung und Vermittlung des Holocaust eignen? Diese Frage wird unter anderem bei der Tagung „NS-Geschichte im Rinnstein. Comics als Medium der Erinnerung“ am 4. und 5. Mai an der Kunstuniversität Linz diskutiert. Konzipiert wurde sie vom Co.Lab Erinnerungsarbeit an der Kunstuni Linz und dem Lern- und Gedenkort Schloss Hartheim, einer von sechs Euthanasieanstalten des NS-Regimes.
Mit „Rinnstein“ ist der Raum zwischen den Panels, also den Bildern eines Comics, gemeint. Diese Zwischenräume werden beim Sprung von einem zum nächsten Panel durch die Fantasie der Lesenden ergänzt. „Durch die Sequenzialität des Comics gibt es immer Auslassungen und Lücken“, sagt die Medienwissenschafterin und Comicforscherin Véronique Sina von der Universität Frankfurt.
Fragmentierte Erinnerung
Gerade weil das Medium Comic mit Leerstellen arbeitet und von Diskontinuität geprägt ist, argumentiert Sina, eigne es sich hervorragend dafür, traumatische Erfahrungen nicht nur im Text, sondern auch auf visueller Ebene zu transportieren. „Auch die Erinnerung ist meist fragmentiert, gebrochen und nicht linear abrufbar“, sagt Sina, eine der Vortragenden bei der Tagung in Linz. „Schließlich ist die Repräsentation der Shoah immer verknüpft mit Unfassbarkeit und Undarstellbarkeit. Comics reflektieren das.“ Eine komplette Darstellung sei von vornherein nicht beabsichtigt.
Außerdem lassen sich im Comic zeitliche Ebenen in einer Parallelität darstellen, wie es in anderen Medien kaum möglich ist – wenn sich etwa Bilder aus Gegenwart und Vergangenheit auf einer Seite befinden und quasi gleichzeitig wahrgenommen werden können. Wie groß die Bandbreite an Genres, Zeichenstilen und Zugängen zum Thema Nationalsozialismus im Comic ist, spiegelt auch die Tagung wider.
Neben Wissenschafterinnen wurden nicht nur Praktiker aus dem Bereich der Erinnerungskultur, sondern auch Gestalter und Gestalterinnen von Comics eingeladen, betont Co-Organisatorin Simone Loistl von der Gedenkstätte Hartheim. „Wir wollen möglichst viele Perspektiven zeigen, mit einem Schwerpunkt auf Österreich“, sagt Loistl, die bereits 2017 die Ausstellung „Holocaust im Comic“ betreut hat.
„Enemy Alien“ und Señorita Rio
Dabei kommen auch weniger bekannte Aspekte zur Sprache: Die Amerikanistin Marie Dücker von der Universität Graz etwa widmet sich der Graphic Novel „They Called Us Enemy“, die die Geschichte des Schauspielers George Takei, besser bekannt als Sulu aus der Serie „Raumschiff Enterprise“, erzählt. Takei war als Kind mit seiner japanischstämmigen Familie während des Zweiten Weltkriegs vier Jahre lang als „Enemy Alien“ in einem US-Internierungslager inhaftiert.
Als Stargast live zugeschaltet wird außerdem die US-Underground-Ikone und Comic-Historikerin Trina Robbins, die das Schicksal der in Wien geborenen jüdischen Zeichnerin Lily Renée vorstellt. 1939 floh Renée vor den Nazis und wurde eine von vielen Frauen, die während des Krieges die boomende Comic-Industrie fluteten – und nach dem Krieg wieder von den Männern verdrängt wurden. Am bekanntesten wurde Renées Charakter Señorita Rio, eine Geheimagentin, die Nazis in Südamerika bekämpft.
Anfeindungen von rechts
Thematisiert werden auch die Fülle an Comics zu Anne Frank sowie die wiederkehrenden Debatten zu Art Spiegelmans „Maus“ – dem Comic-Klassiker zum Thema Holocaust schlechthin. Vergangenes Jahr wurde das bahnbrechende Buch, in dem Spiegelman die Geschichte seines Vaters, eines Auschwitz-Überlebenden, festhält, von einer lokalen US-Schulbehörde aus dem Lehrplan gestrichen – was für große Aufregung und nebenbei steigende Verkaufszahlen sorgte. Kürzlich wurde andernorts ein Anne-Frank-Comic verboten.
„In den USA kommen die Anfeindungen von gesellschaftskritischen Comics ganz klar von rechtskonservativer Seite“, sagt Angela Koch, Leiterin des Co.Lab Erinnerungsarbeit an der Kunstuni Linz. Graphic Novels würden nicht nur angegriffen wegen expliziter Bilder, etwa zu Sexualität, sondern auch weil sie wenig leseaffinen Menschen leichter zugänglich seien, vermutet Koch. Genau diese Zugänglichkeit von Bildern ermöglicht aber auch insbesondere jüngeren Menschen, sich einem Thema wie der NS-Zeit anzunähern. „Die Bilder eröffnen über das Dargestellte hinaus riesige Vorstellungswelten“, sagt Koch. „Die Kombination von Text und Bild kann, gerade wenn sie nicht kongruent sind, Widersprüche und Doppeldeutigkeiten aufzeigen.“
Als Beispiel nennt Angela Koch Regina Hofers und Leopold Maurers Buch „Insekten“, das von den Erinnerungen des Nazi-Großvaters von Maurer handelt: „Durch den Wechsel zwischen narrativen und abstrakten Elementen entsteht ein Spannungsfeld, das ganz unterschiedliche Assoziationen auslöst.“
Vergessene Partisaninnen
Im Comic werden Lücken nicht nur gedanklich gefüllt, sondern auch inhaltlich, wenn unterbelichtete Kapitel der NS-Geschichte an die Bildfläche geholt werden – wie etwa der Verdienst antifaschistischer Widerstandskämpferinnen. „Die Perspektive von Partisaninnen ist in der Erinnerungskultur nach wie vor unterrepräsentiert“, sagt Comic-Expertin Barbara Eder. In ihrem Vortrag vergleicht sie die Darstellung von weiblichem Widerstand in Comics aus Österreich und aus ex-jugoslawischen Ländern.
Eder bezieht sich dabei unter anderem auf das Buch „Die Schönheit der Verweigerung“ des Wiener Zeichners Thomas Fatzinek, das die Mitglieder einer Widerstandsgruppe im Salzkammergut skizziert. „Hier werden im Gegensatz zur üblicherweise männlich konnotierten Ikonografie von Partisanen die Frauen als gleichwertige Kämpferinnen dargestellt“, sagt Eder.
In Aleksandar Zografs „Partisanenpost“ dominieren hingegen heroisierte Männerkollektive, stellenweise auch in ironisierter Form, schildert Eder. „Es gibt noch großen Aufholbedarf, was die Erinnerung an Frauen im Widerstand betrifft. Angesichts der Tatsache, dass Zeitzeuginnen immer weniger werden, erhalten diese Comic-Dokumente eine besondere Bedeutung.“
Innovative Archive
Eine breitere Einbeziehung von Visualisierungstechniken in das Geschichtenerzählen besitze das Potenzial, innovative Wege des Sammelns von Zeitzeugenberichten zu eröffnen, schreiben die Mitglieder des Forschungsprojektes zu Narrative Art and Visual Storytelling. „Es braucht neue Formen der Erinnerungskultur“, betont auch die Comicforscherin Véronique Sina. „In Graphic Novels können Bilder zu Erzählungen geschaffen werden, zu denen es keine Fotos oder andere Dokumente gibt. Damit entsteht eine ganz besondere Form der Archivierung und Visualisierung.“
Den Reiz der Graphic Novel gerade bei der Vermittlung so komplexer Themen wie der NS-Geschichte beschreibt die Künstlerin Barbara Yelin so: „Ein Bild ist für mich weniger eine Behauptung, sondern eine Tür, eine Einladung, eine Frage.“ Und damit ein Schlüssel zum besseren Verständnis unserer Vergangenheit.
Diesee Beitrag erschien zuerst am 04.05.2033 in: Der Standard.
Karin Krichmayr arbeitet als Wissenschaftsredakteurin für Der Standard. Außerdem betreibt sie für die österreichische Tageszeitung den Comicblog Pictotop.