Diese Seefahrt ist nicht lustig

Das französische Künstler-Team Xavier Dorison und Thimothée Montaigne zeichnet in „1629“ die Schiffskatastrope der Batavia nach – ein schauerliches Lehrstück, was Seefahrt seinerzeit tatsächlich bedeutete.

Amsterdam, gegen Ende des Jahres 1628: Francisco Pelsaert, ein Oberkaufmann der Niederländischen Vereinigten Ostindien-Kompanie (VOC), erhält eine zweite Chance, nachdem sein Versuch, den Großmogul in „Indien“ as Handelspartner zu gewinnen, gescheitert ist. Dazu stellt man ihm 300.000 Gulden in Münzen, Schmuck und die just fertiggestellte Galeone Jakarta zur Verfügung. Gerade einmal 120 Tage bleiben ihm, um sein Ziel zu erreichen. Als Kapitän fungiert der erfahrene, aber grobschlächtige Ariaen Jakobs, den Pelsaert nicht leiden kann (und umgekehrt), und als Stellvertreter Pelsaerts und Unterkaufmann heuert man den Apotheker Jeronimus Cornelius an (Ober- und Unterkaufmann hatten in der VOC Befehlsgewalt über den Kapitän). Und Madame Lucretia Hans gehört zu den wenigen Passagieren. Die Adelige wurde von ihrem Mann nach Jakarta auf Java „befohlen“.

Die übrige Besatzung sind dagegen fast allesamt aus dem Bodensatz der Gesellschaft rekrutiert. Diebe und Mörder tummeln sich hier, denen die waghalsige Reise einen letzten Ausweg bietet. Kontakt zwischen hochrangigen Passgieren und der Mannschaft ist strengstens verboten, selbst versehentliche Blicke der gemeinen Seeleute auf die Passagiere werden drakonisch bestraft. Überhaupt führt Pelsaert von Anfang an ein strenges Regiment. Dennoch wird der Neid – hier die Mannschaft mit ihrem Eintopffrass voller Maden, dort die dinierende feine Gesellschaft – immer größer.

© Splitter Verlag

Ein Schiff, getrieben von Wind und Gier. Gier auf Seiten der Oberen, die sich maximalen Profit von der Unternehmung versprechen. Sei es die VOC oder Pelsaert, der für jeden Tag, den er schneller an sein Ziel gelangt als in der ohnehin schon knappen, vorgegebenen Zeit, eine persönliche Prämie erhält. Und Gier seitens der elendigen Mannschaft, die sich den strengen Regeln und Gesetzen an Bord bedingungslos unterwerfen muss und für die der Reichtum in Kisten verpackt nur Meter entfernt ist. Der gesellschaftliche Mikrokosmos an Bord, die Enge und das Elend (nicht nur) der Mannschaft werden von Autor Xavier Dorison eindringlich als allgegenwärtiges Problem geschildert: Auspeitschungen, Matrosen, die in ihren eigenen Fäkalien schlafen, überall Gewalt und menschliche Verrohung.

Die harte Hand Palsaerts ist das eine. Aber das Unheil (wer sich die Spannung erhalten will, verzichtet auf das Lesen des Wikipedia-Eintrags zu dieser „Reise“) hat noch eine Geheimwaffe in petto in der Person des Apothekers Jeronimus Cornelius, der offenbar von Beginn an nichts Gutes im Schilde führt und nahezu dämonische Züge verliehen bekommt. Ganz langsam, aber stetig und raffiniert treibt Cornelius einen Keil in das ohnehin poröse Gefüge an Bord, bis die Katastrophe ihren Lauf nimmt – mehr dazu im abschließenden Band 2, der wohl noch um einiges heftiger sein wird, wie das Vorwort und das ausgegebene Motto von Xavier Dorison bereits anklingen lassen.

Vielleicht um eine Distanz zu den historischen Ereignissen zu schaffen und aufzuzeigen, dass die Geschichte in Teilen eine Interpretation dieser tatsächlichen Geschehnisse und der beteiligten Personen ist, heißt das Schiff nicht wie im Original Batavia (so der holländische Name der indonesischen Hauptstadt), sondern Jakarta. Zeichner des gewaltigen Bandes ist Thimothée Montaigne, der u. a. „Das dritte Testament: Julius“ in Szene setzte und schon dort mit Dorison zusammenarbeitete. Sein realistischer Stil, seine ungeheuer kraft- und prachtvollen Bilder ähneln denen von Mathieu Lauffray (dessen „Long John Silver“ Montaigne teils kolorierte) und Alex Alice. Der Splitter Verlag bietet neben der Normalausgabe (die ist schon opulent, siehe auch das wunderbare Cover) eine auf 666 Stück limitierte Vorzugsausgabe samt Extraseiten und Kunstdruck an. Der zweite Band wird dann das Drama beenden.

Dieser Text erschien zuerst auf: Comicleser.de

Xavier Dorison (Autor), Thimothée Montaigne (Zeichner): 1629, oder die erschreckende Geschichte der Schiffbrüchigen der Jakarta. Band 1 • Aus dem Französischen von Harald Sachse • Splitter Verlag, Bielefeld 2023 • 136 Seiten • Hardcover • 35,00 Euro

Bernd Weigand ist schon über vier Jahrzehnte in Sachen Comics unterwegs: lesen, sammeln, übersetzen. Schreibt auch seit 20 Jahren über Comics, seit 2010 auf comicleser.de.