„Objekte sind mächtig, wir schreiben mit ihnen unsere Lebensgeschichte“

Finale Doppelseite in "Wimbledon Green" (Edition 52)

Der 1962 geborene Zeichner und Illustrator Seth heißt mit bürgerlichem Namen Gregory Gallant und hat in den neunziger Jahren mit Chester Brown und Joe Matt die kanadische Comicszene wachgeküsst. In einer Generation der Ausnahmekünstler ragt der sympathische Hipster heraus. Mehrfach preisgekrönt sprechen seine Comics mit Titeln wie „Eigentlich ist das Leben schön“ oder „Vom Glanz der alten Tage“ für sich. In seinem neuen „Palookaville“-Album nimmt er seine Leser:innen einmal mehr mit auf eine berührende Zeitreise. Auf Deutsch erscheinen seine Comics bei Edition 52.

Mr. Galland, in Ihrem neuen „Palookaville“-Band tauchen Sie tief in Ihre Jugend ein. Kommt jetzt endlich die große autobiografische Erzählung, auf die Ihre Fans schon lange warten?

Ja, ich arbeite ja schon eine Weile daran. Kindheit und Jugend sind fertig, und ich bin bei knapp 150 Seiten. Es werden mindestens noch einmal so viele, bis ich im Alter von dreißig Jahren angekommen bin. Es wird also noch ein bisschen dauern. Über die Jahre danach will ich noch nicht schreiben, ich bin noch nicht so weit.

Waren die so belastend?

Ich lebte damals in einer toxischen Beziehung. Wir waren zehn Jahre zusammen, das war keine gute Phase in meinem Leben. Ich möchte mich jetzt nicht damit auseinandersetzen.

Aber irgendwas scheint Sie ja an der Vergangenheit und den Erinnerungen zu reizen, so oft, wie Sie darin eintauchen?

Für mich sind Erinnerungen das Wichtigste im Leben. Je älter ich bin, desto öfter denke ich an meine Jugend. Diese Erinnerungen fühlen sich manchmal echter an als die Gegenwart. Die Erinnerung ist der Fluss, in dem wir schwimmen. Je älter ich werde, desto mehr denke ich darüber nach, dass wir nur diese kurze Zeitspanne haben. Die Erinnerung scheint mir die einzige Möglichkeit, dem einen Sinn zu geben. Verrückt ist, dass die Erinnerung eine so ungenaue und unzuverlässige Aufzeichnung unseres Daseins ist. Je älter man wird, desto mehr erkennt man, dass die eigenen Erinnerungen wahrscheinlich ungenau sind.

Inwiefern?

Nun, je älter ich werde, desto weniger glaube ich, dass meine Erinnerungen korrekt sind. Aber das scheint auch nicht wichtig zu sein. Die Erinnerungen selbst und die Lebensgeschichte, die man sich erzählt, sind das eigentlich Interessante. Ich glaube nicht, dass es die eine wahre Lebensgeschichte gibt, weil man sein Leben ständig umschreibt. Wenn man mich als Zwanzigjährigen nach meiner Kindheit gefragt hätte, hätte ich eine andere Geschichte erzählt, als ich sie heute erzähle. Nicht, weil sich Ereignisse geändert haben, sondern weil ich damals eine andere Agenda hatte. Mit zwanzig hatte ich wahrscheinlich ziemlich genaue Erinnerungen. Jetzt habe ich nur das, was aus irgendeinem Grund hängengeblieben ist. So poliert man seine Erinnerungen im Laufe der Jahre auf; manches verschwindet, anderes strahlt in vollem Glanz.

Was bedeutet das für Ihre Arbeit?

Im neuen „Palookaville“-Album erzähle ich die Geschichte einer Affäre, die ich mit der Frau meines Chefs hatte. Darüber hatte ich schon mal mit Anfang dreißig einen Comic gezeichnet. Den habe ich jetzt natürlich herausgeholt, um ihn durchzusehen. An die Hälfte von dem, was ich damals zeichnete, konnte ich mich gar nicht mehr erinnern. All das ist verblasst. Wenn ich damals nicht diesen Comic gemacht hätte, wären viele dieser Details einfach verschwunden.

Erinnerungen sind nur „Stücke und Einzelteile“, lese ich bei Ihnen. In Ihren Comics bauen Sie sie mit kleinen Details, mit Objekten, Innenräumen, Zeichen, Symbolen wieder auf. Es liest sich wie ein Monolog der Dinge über die Zeit und ihre Vergänglichkeit. Was erzählen Objekte über den Menschen?

Ich bin ein Sammler, Objekte finde ich unheimlich faszinierend. Sie haben eine große Macht. Als Kind wuchs ich mit sehr alten Eltern auf, meine Geschwister waren also schon ausgezogen, als ich klein war. Das Haus war voller alter Sachen, und ich habe sie geliebt. Das hat sich mir irgendwie eingebrannt. Ich kann mich erinnern, dass ich als Kind in alten Fotos gewühlt habe. Mein Vater hatte tonnenweise alte Hefte und Papiere aus seiner Zeit bei der Luftwaffe und als Pfadfinderführer. Ich habe schon als Kind begonnen, mir Objekte einzuprägen. Und das hat mich zum Sammler gemacht. Es liegt eine große Kraft in der Zusammenstellung von Objekten. Mein Haus ist sehr kuratiert, manchmal fühlt es sich wie ein Museum an. Manchmal frage ich mich, was es bringt, all diese Dinge anzuhäufen und zusammenzustellen. Wir sind nur kleine Wesen auf einem großen Ball, aber wir haben eine Kiste und werden sie mit Dingen füllen, die unser Leben ausmachen. Das hat etwas Magisches. Jedes einzelne Ding in diesem Haus ist ein Gegenstand, den ein Mensch geschaffen hat. Nichts hier ist von Bedeutung, aber alles bedeutet mir etwas. Welche Magie auch immer dahinter steckt, sie gibt meinem Leben einen Sinn. Objekte sind mächtig, wir schreiben mit ihnen unsere Lebensgeschichte.

Sie sagen, eines der wichtigsten Ziele des Lebens sei es, eine Lebensgeschichte zu schreiben, indem man Dinge sammelt und kuratiert. Worum geht es in Ihrer Lebensgeschichte?

Mit meiner Arbeit versuche ich ein System zu finden, um zu greifen, was in meinem Kopf vor sich geht. Meine Lebensgeschichte ist ansonsten ganz simpel, fast langweilig. Irgendwann bin ich zur Schule gegangen, dann war ich Punkrocker und später ein nostalgischer Typ, der Comics macht. Das ist alles wenig spektakulär.

Ich fand die Entwicklung zum Punkrocker und Nostalgiker spannend.

Bei der Punk-Bewegung ging es irgendwie auch um Nostalgie. Punk war eine Reaktion gegen die Hippies, brachte die 50er-Jahre wieder zurück. Als jemand, der mit alten Sachen aufgewachsen ist, war ich davon begeistert. Ich mochte all diese Retro-Trend, die Rockabilly-Musik und die Ästhetik der 50er-Jahre. Wahrscheinlich war ich einfach eine Art Hipster. Ich wurde älter und schlauer und fing an, über diese Zeit und meine Faszination nachzudenken. Aber wie die meisten jugendorientierten Sachen war es ziemlich oberflächlich.

Lassen Sie uns zurück zu Ihrer Lebensgeschichte kommen.

Identität wird sowieso geschaffen. Ich denke, man wird mit einer gewissen Persönlichkeit geboren und hat keine große Wahl. Aber man kann dieser Persönlichkeit etwas hinzufügen oder entfernen, man kann sie verfeinern. Ob man will oder nicht, man baut sich seine Identität auf. Für mich war es schon als Teenager sehr wichtig, dass ich mir meine Identität bewusst schaffe. Ich war immer sehr darauf bedacht, mir ein Image zu schaffen und meine eigene Ästhetik zu verfolgen. Die hat sich im Laufe der Zeit immer wieder geändert, aber war immer eine klare Sache. Ich denke, das ist wichtig, weil man bei der eigenen Identität zwei Möglichkeiten hat. Entweder man erschafft sie selbst oder man lässt sie von anderen für sich erschaffen. Und für mich war es wichtig, selbst die Verantwortung dafür zu tragen. Und wie bei allem: Wenn man es tut, wird es wahr. Es steckt also viel Wahrheit in dem Spruch „Fake it till you make it“. Wenn man Dinge immer wieder macht, dann sind sie irgendwann nicht mehr nur vorgetäuscht. Man ist dann einfach, wer man ist.

So wie aus Gregory Gallant der Comiczeichner Seth wurde.

Ehrlich gesagt wünschte ich, ich hätte das nie getan. Ich mag den Namen Gregory Gallant, das ist ein guter Name. Als Teenager habe ich meine eigene Comic-Firma gegründet, und sie hieß Gallant Comics, was ein ziemlich cooler Name ist. Aber in meinen 20ern wollte ich als Nachtclub- und Punkrock-Kid einen dramatischen, gruftigen Namen haben. Also nahm ich Seth und drängte alle, mich so zu nennen. Seitdem bin ich Seth, und inzwischen bin ich das schon 30 Jahre zu lange, um es rückgängig zu machen. Jetzt muss ich damit leben. Ich bin froh, dass Seth ein echter Name ist. Ich hätte mir damals auch so etwas wie „Monster Zero“ aussuchen können. Stell dir vor, du hättest dann ein Leben lang diesen schrecklichen Namen am Hals. Seth ist wenigstens ein richtiger Name, und die meisten denken auch, dass das mein richtiger Name ist. Das ist also in Ordnung.

Der Rest des sehr ausführlichen Interviews von Thomas Hummitzsch findet sich hier auf Intellectures.de.