„Bianca“ von Guido Crepax?

Wie einst neue Frauenbilder in die populäre Kultur gebracht wurden. Eine Zeitreise, natürlich mit Aktualitätsbezügen.

Crepax, ja klar, „Valentina“, vielleicht noch „Die Geschichte der O“ als Graphic Novel, und für Spezialisten auch gerne „Der Mann aus Harlem“ oder „Conte Dracula“ – aber „Bianca“, hmmm? Tröstlich, dass auch Pieke Biermann, die sich nun wirklich mit italienischer Kultur auskennt, in ihrer klugen Einleitung einräumt, „Bianca“ bisher nicht gekannt zu haben. Zudem ist auch sie ein bisschen unsicher, was es denn mit der Figur Bianca an und für sich und mit ihrem Stellenwert in Guido Crepax‘ Gesamtwerk so auf sich hat. Deswegen schlägt sie als „Schlüssel“ zu „Bianca“ vor, auf Georges Wolinski, auch einer der ganz Großen (ermordet beim Anschlag auf „Charlie Hebdo“), zu hören, der meinte, „Crepax zeichnet die schönsten Pobacken in der Geschichte der Comics, und von Comics verstehe ich was“. Das ist auf jeden Fall plausibel.

Ein anderer Ansatz läge vielleicht in der rein optischen Ähnlichkeit von Bianca mit Valentina, die beide wiederum von Louise Brooks inspiriert sind. Bianca hat längere Haare, aber das ist ein Detail, die beiden könnten Schwestern sein. Aber nicht irgendwelche. Valentina hat einen Nachnamen, Rosselli, und lebt eine vita activa als Fotografin. Bianca, eher passiv, kommt aus dem Nichts, ist sozial schlecht in Zeit und Raum zu definieren, ist eher Sexobjekt denn Subjekt, wie Valentina. Man könnte also auf die Idee kommen, Bianca als Justine zu verstehen, Valentina wäre dann etwas wie Juliette.

Und prompt heißt eine der „starken“, grausamen Frauen in „Bianca“ Juliette. Und wenn von viel BDSM die Rede ist – „Bianca“ ist eine einzige BDSM-Orgie (avant le lettre) –, dann scheint der Verweis auf den ollen Marquis gar nicht so abwegig. Aber auch nicht sehr weiterführend. Das liegt unter daran, dass Konsistenz bzw. die intentionale Abwesenheit von Konsistenz ein Markenzeichen von „Bianca“ ist. Wollte man alle Hinweise, Verweise, Zitate, Anspielungen der drei Episoden – „Das Tollhaus“, „Odessa, 1905“, „Das Mädcheninternat (Die Realität, zuvor)“ – auflisten, hätte man sicher Wochen zu tun und doch noch nicht alle erwischt. Schon vom Eröffnungspanel, das eine ganze Seite einnimmt, grinst mich von links oben Max Schreck als Nosferatu an, andere Elemente wie eine Guillotine, eine erhängte Figur oder ein Schachbrett werden uns später wieder begegnen, aber daraus einen Katalog der Leitmotive abzuleiten, wäre wiederum zu konsistenzerzwingend, denn dann müsste man, wir sind immer noch auf der erste Seite, darüber nachdenken, warum fleißige Bauarbeiter damit beschäftigt sind, eine Art M.C.Escher-Gebäude zu zerlegen, das, mit einigem Abstand betrachtet, auch ein Totenschädel sein könnte.

Bild aus „Bianca“ (Avant-Verlag)

Selbst wenn später kurze narrative Zusammenhänge aufscheinen, wie in der Episode „Odessa, 1905“, als Bianca angeklagt wird, den Börsenmakler Stolypin (zufällige Namensgleichheit mit dem russischen Premierminister ab 1906, mit einer Vorliebe für Standgerichte und Hinrichtungen?) erschlagen, die Sopranistin Krzesinska in der Badewanne ertränkt und die Ballerina Alexandra Fedorowna mit einem Seidenstrumpf an einem Lüster erhängt zu haben (cf. Eingangspanel), wird sie mit einem Vampir, der nicht aussieht wie Graf Orlok, sondern eher wie Burt Lancaster, konfrontiert und später bei einem Diner, nachdem sie von einem Metzger namens Kornilow (so wie ein General der Zaristischen Armee, der später gegen die Kerenski-Regierung putschte) zubereitet und serviert von einem Roué namens Osvaldo verschmäht und in die Mülltonne geworfen wird. Aber auch so kommen wir nicht weiter, weil unsere Aufmerksamkeit schon wieder woanders ist. Hier ist Raum und Zeit nicht zufällig. Odessa im Jahr 1905 steht natürlich für die Ereignisse um den Panzerkreuzer Potemkin. Ungerührt schreitet Bianca und Gefolge die Richelieu-Treppe hoch, die später durch Eisensteins Film weltberühmt werden sollte. Und hier schon aussieht wie das Filmset zu Eisensteins Propaganda-Werk, inklusive des umgestürzten Rollstuhls. Geschichte, so kann man sich denken, zumal aus einer Perspektive ex post, ist für Bianca nicht sehr interessant, auch wenn die Bilderwelt, durch die sie sich bewegt, sich andauernd darauf bezieht.

Der Generierungscode für „Bianca“ scheinen also die permanent liquiden Assoziationen zu sein. In der ersten Episode, „Das Tollhaus“, bewegt sich Bianca nicht nur durch die Zeit und verschiedenen Realitätsebenen (auf denen sie immer wieder Wesen aus Hoch- und Popkultur trifft, die dann wiederum für andere Kunstwerke bildstiftend wirken: Es gibt in „Bianca“ Figurenkonstellationen, die wieder in Pasolinis „Salò“ auftauchen, zum Beispiel), sondern auch durch den Raum, der mit „Haus“ völlig unzureichend, gar falsch beschrieben ist, was möglicherweise mit dem Escher-Hinweis zu tun hat. Oben und unten, vorher und nachher, Realität und Halluzination, Traum und Vision fließen stetig – die Option, alles sei dem Tagebuch oder anderen Aufzeichnungen der Internatsschülerin Bianca entsprungen, die im letzten und dritten Teil „Das Mädcheninternat (Die Realität, zuvor)“ thematisiert wird, obwohl die Episode handlungschronologisch vor den anderen beiden Teilen stehen sollte, ist wie fast alles eine Sinnstiftungsfalle.

Aber vielleicht ist selbst das schon wieder eine falsche Spur – und man soll einfach den meisterhaften Bildern von Crepax folgen, sich daran ergötzen, sich Zeit nehmen, genau hinzuschauen, denn wenn man das nicht tut, entgehen einem wichtige Details und somit eine Menge Genuss. Dann geht es bei „Bianca“ tatsächlich um Sex, Sex und Sex, um Fantasien, die man von mir aus auch als „Männerfantasien“ geißeln kann, auch wenn sich auch Frauen damit vergnügen können und sollen. Pieke Biermann beschreibt sehr schön, wie Figuren wie Valentina, Modesty Blaise, Barbarella oder Jodelle in den miefigen, spießigen, moralheuchlerischen 1950/60/70er Jahren (gerade in der Romania) Sexualität aufmischten und neue Frauenbilder in die populäre Kultur einführten. Was wiederum nicht zu neuen, dogmatischen Verhältnisse führen muss – siehe „Bianca“.

Natürlich schockt „Bianca“ heute nicht mehr, und provozieren kann das Konzept höchstens einen auch heute hin und wieder aufblitzenden Neopuritanismus, der sich inzwischen aus sehr unterschiedlichen, gar sich widersprechenden Ideologemen speist. Aber dank ihrer Bildmächtigkeit und Virtuosität muss man „Bianca“ als Graphic Novel nicht zwingend ins kulturhistorische Museum verbannen. Womit wir wieder bei Wolinski wären.

Dieser Beitrag erschien zuerst am 01.09.2023 auf: CulturMag

Guido Crepax: Bianca (1968–1971) • Aus dem Italienischen von Salvador Denario. Mit einer Einleitung von Pieke Biermann • Avant-Verlag, Berlin 2023 • 210 Seiten • Hardcover • 39,00 Euro

Thomas Wörtche, geboren 1954. Kritiker, Publizist, Literaturwissenschaftler. Beschäftigt sich für Print, Online und Radio mit Büchern, Bildern und Musik, schwerpunktmäßig mit internationaler crime fiction in allen medialen Formen, und mit Literatur aus Lateinamerika, Asien, Afrika und Australien/Ozeanien. Mitglied der Jury des „Weltempfängers“ und anderer Jurys. Er gibt zurzeit das Online-Feuilleton CULTURMAG/CrimeMag und ein eigenes Krimi-Programm bei Suhrkamp heraus. Lebt und arbeitet in Berlin.