Ohne Disney-Zuckerguss

In seinem neuen Western beleuchtet der französische Comickünstler Patrick Prugne den Pocahontas-Mythos.

Virginia im Jahr 1607. Nach der gescheiterten Kolonie auf Roanoke Island versuchen die Engländer erneut mit einer festen Siedlung in der neuen Welt Fuß zu fassen und gründen Jamestown im Süden der Chesapeake Bay. Als erste Amtshandlung plant Captain Wingfield die Vollstreckung eines Todesurteils: John Smith soll wegen Meuterei gehängt werden. Da jeder kampffähige Mann gebraucht wird, begnadigt man ihn jedoch. Bei den Powhatan, die in der Nähe von Jamestown siedeln, registriert man die Ankunft der Engländer argwöhnisch. Doch Matoaka, Lieblingstochter des Häuptlings, die von ihrem Bruder Pamuik gerne mit dem Kosenamen Pocahontas (Kleiner Schelm) gerufen wird, ist neugierig auf die Fremden, begleitet Pamuk in die Nähe der Siedlung und trifft dort unvermittelt auf John Smith. Dem genügt die flüchtige Begegnung, um von der jungen Frau fasziniert zu sein. Fortan hält er bei seinen Streifzügen Ausschau nach Pocahontas. Dabei kommt es zu einer Begegnung, die beinahe fatal verläuft…

Mit seinem neuesten Werk „Pocahontas“ taucht Autor und Zeichner Patrick Prugne einmal mehr in die Frühgeschichte der Kolonisierung Amerikas durch die Europäer ein. Diesmal geht er zurück bis zur Gründung von Jamestown, der ersten Siedlung der Weißen, und greift mit Pocahontas einen populären Mythos auf. Spätestens seit dem Disney-Zeichentrickfilm (1995) mit Gesang und sprechenden Tieren und der ernsten Verfilmung des Stoffes von Regisseur Terrence Malick, „The New World“ (2005), ist die Legende um die Indianerprinzessin und ihr späteres Leben unter den Europäern bekannt. Dabei sind die historischen Tatsachen längst verwässert, was auch an den ausufernden Schilderungen von John Smith liegt. So gibt es keine weiteren Belege für seine Rettung durch Pocahontas, auch die Liebesgeschichte zwischen den beiden scheint romantische Fiktion zu sein.

Ein Nachteil dieses Comics ist tatsächlich, dass man Pocahontas Geschichte zumindest rudimentär kennt. Dennoch erlaubt sich Patrick Prugne einige inhaltliche Freiheiten. So baut er Wingfield als Bösewicht auf (eigentlich ein Mitgründer der London Virginia Company, der später nach England zurückkehrte), der die „Wilden“ gnadenlos bestraft und von seiner Gier nach Gold und Reichtum getrieben wird. Und überdies John Smith hasst, weil er ihn verschonen musste. Smith selbst stellt Prugne als nahezu romantische Figur dar, als um Frieden bedachter Vermittler zwischen den Kulturen – hauptsächlich aber nur, weil ihn der erste Anblick Pocahontas‘ betörte. Pocahontas erscheint einerseits als selbstbewusst und resolut, sich ihrer Rolle als Prinzessin wohl bewusst, andererseits unglücklich und ihr neues Leben bei den Europäern bereuend. Wobei die Verbdinung, die Prugne den beiden angedeiht, noch Spielraum für Interpretation bietet.

Prugnes Version konzentriert sich in erster Linie auf die Zeit bis zur Abreise von John Smith; Pocahontas‘ weiteres Leben wird nur kurz angerissen (die Heirat mit dem Tabakpflanzer John Rolfe, ihre Zeit in England und ihr früher Tod), wobei den Ereignissen in Jamestown wie auch im Dorf der Powhatan zuvor viel Raum belassen wird. Eingeklammert wird die Geschichte von einer Rahmenhandlung, die 1621, also Jahre später, spielt und im Wesentlichen aus einem Zwiegespräch zwischen Pamuik und Lieutenant Pitt, einem Freund John Smiths, besteht. Natürlich gestaltet Prugne den Band in seinem unnachahmlichen Zeichenstil, mit sanften, gediegenen Aquarellfarben, in denen atmosphärisch dichte, romantisierende, winterliche Szenen ebenso zur Geltung kommen wie die unberührte Natur, die Siedlung der Europäer und das Dorf der Powhatan. Somit trotz des bekannten Sujets ein Muss für alle, die an Prugnes Werken „Pawnee“ oder „Tomahawk“ Gefallen finden.

Dieser Text erschien zuerst auf: Comicleser.de

Patrick Prugne: Pocahontas • Aus dem Französischen von Harald Sachse • Splitter Verlag, Bielefeld 2023 • 96 Seiten • Hardcover • 22,00 Euro

Bernd Weigand ist schon über vier Jahrzehnte in Sachen Comics unterwegs: lesen, sammeln, übersetzen. Schreibt auch seit 20 Jahren über Comics, seit 2010 auf comicleser.de.