Der türkische Zeichner Ersin Karabulut legt mit „Das Tagebuch der Unruhe“ einen autobiografischen Comic vor, der Erdoğans Regierungszeit keineswegs in einem glänzenden Licht zeigt.
Ruhmreich sieht die Türkei, wenn Ersin Karabulut sie zeichnet, nicht aus. Die Menschen haben Glubschaugen und hervorstehende Zähne – und immer wieder Angst, dass sie von anderen bespitzelt werden. Zum Beispiel als der kleine Ersin in den 80er-Jahren Bier für seinen Vater vom Kiosk holen soll. Der Vater bittet ihn aufzupassen, dass die Flaschen nicht aneinander klirren.
Bier trinken ist nicht verboten in der Türkei. Aber unter religiösen Muslimen ist es verpönt. Die Fronten zwischen religiösen und säkularen Türken waren schon damals verhärtet. Der kleine Ersin weiß davon noch nichts und ist so stolz, dass er die Flaschen ohne zu klirren trägt, dass er stolpert und sich das Bier vor der Tür eines Mullahs ergießt.
Humor habe eine lange Tradition in der Türkei, erzählt Ersin Karabulut, die sei älter als das Osmanische Reich. Schon im 14. Jahrhundert gab es satirische Zeichnungen. Satiremagazine hätten jahrzehntelang die Subkultur bestimmt. Humor sei stark, den könne man nicht kontrollieren. Darum würden starke Führer keinen Humor mögen.
Neben den humoristischen Alltagsbeschreibungen zeichnet Ersin Karabulut immer wieder historische Exkurse in naturalistischem Stil. Von Mustafa Kemal Atatürk zum Beispiel, der die Türkei vom Einfluss der Westeuropäer befreite und die türkische Republik als säkulare Demokratie gründete. Oder von seinem Vater, der Ende der 70er-Jahre von rechtsradikalen Türken bedroht und dessen bester Freund von diesen erschossen wurde. Die Brutalität der verfeindeten Lager war so groß, dass das Militär die Regierung übernahm und für Ordnung sorgte. Später schien Recep Tayyip Erdoğan stark genug, um die verschiedenen türkischen Lager zusammenzuhalten.
Den Comic hat Karabulut für ein europäisches Publikum gezeichnet. Er möchte erzählen, dass die Türkei ein kompliziertes Land sei, nicht so östlich wie der Iran, aber auch nicht wie Griechenland. Karabulut zeichnet eine verwirrte Gesellschaft, die sich nicht entscheiden kann, wo sie steht, im Westen oder im Osten. Ersin Karabulut selbst wächst mit westlichen Werten auf. Und mit westlichen Comichelden wie Asterix, Lucky Luke oder Superman. Als Kind zeichnet er sie immer wieder. Und als Erwachsener lässt ihn die Erinnerung an die Comichelden weiter als politischer Zeichner arbeiten, als ihm deswegen ein Gerichtsverfahren droht. Weil ihn die Comichelden an seine Werte erinnern: rür die Schwachen eintreten, auch wenn der Gegner unüberwindbar scheint. In dem Comic „Das Tagebuch der Unruhe“ zeigt er eine Realität in der Türkei, die man normalerweise nicht in den Nachrichten sieht.
Zum Beispiel die große Szene der Satirezeitschriften. Ersin Karabulut hat für das Satiremagazin „Penguen“ gearbeitet. Die wurde immer wieder wegen ihrer bissigen Kommentare von Erdoğans AKP-Regierung mit Prozessen überzogen und ist inzwischen eingestellt. Zum ersten Mal wurde „Penguen“ im Jahr 2005 verklagt, weil sich das Magazin mit einem Zeichner solidarisierte, der Erdoğan als Katze gezeichnet hatte und deshalb vor Gericht musste. Die nächste Ausgabe des „Penguen“ zeigte Tierportäts von Erdoğan auf dem Cover. Eigentlich hätte Karabulut eines der Tiere zeichnen sollen. Allerdings hatte er Angst vor Konsequenzen und schob die Zeichnung so lange auf, bis ein anderer Zeichner übernahm. Es war ein Moment des Zögerns, der Karabulut klarmachte, dass er es nie wieder hinnehmen wollte, wenn seine Meinungsfreiheit beschnitten wird.
Deshalb möchte der Zeichner mit seinem Comic auch warnen, „dass die demokratischen Rechte, die man seit seiner Geburt kennt – dass die sehr einfach wieder weggenommen werden können“. Es gibt also durchaus universelle Erkenntnisse, die Ersin Karabulut in seine persönliche Geschichte der türkischen Republik einfließen lässt. Und das zeichnet er mit so beißendem Humor, dass einem mitunter das Lachen im Hals stecken bleibt.
Dieser Beitrag erschien zuerst am 04.11.2023 auf: rbbKultur
Ersin Karabulut: Das Tagebuch der Unruhe. Band 1 • Aus dem Französischen von Christoph Haas • Carlsen, Hamburg 2023 • 160 Seiten • Hardcover • 25,00 Euro
Andrea Heinze arbeitet als Kulturjournalistin u. a. für kulturradio rbb, BR, SWR, Deutschlandfunk und MDR.