In seiner Comic-Autobiografie „Die Synagoge“ erzählt Joann Sfar von einer Jugend in Nizza zwischen Neonazis, Kung-Fu und Alltagsantisemitismus – mit frappanten Parallelen zu heute.
Eigentlich gibt es nur einen einzigen Grund, warum Joann Sfar Wachdienst vor der Synagoge schiebt. Wenn er draußen aufpasst, muss er nicht drin sitzen. Der Gottesdienst, zu dem ihn sein gläubiger Vater verdonnert, ödet den 16-Jährigen schon die längste Zeit gewaltig an. Also lässt er sich die Gelegenheit nicht entgehen, dem wild zusammengewürfelten Team beizutreten, das von einem Kasten von Mann mit stechend blauen Augen, roter Mähne, dicken Koteletten und Goldketterl im offenen Hemdkragen geleitet wird.
Der Grund dafür, dass die jüdische Gemeinde einen Wachschutz einrichtete, ist ein weniger banaler. Am 3. Oktober 1980 explodierte eine Bombe vor einer Synagoge in Paris, vier Menschen starben, 46 wurden verletzt. Seitdem ging die Angst vor Anschlägen auch in Nizza um, der Heimatstadt des französischen Comiczeichners Joann Sfar, der Jude mit arabischen Wurzeln ist. Ultranationalisten und Rechtsextreme sind in den 1980er- und frühen 1990er-Jahren, der Zeit von Sfars Jugend, auf dem Vormarsch, Neonazis treten noch unverhohlen mit Glatze und Springerstiefeln auf. Offener Antisemitismus ist durch die Bank salonfähig. Lebensbedrohlich sind Bomben, Molotowcocktails und Aggressionen jeder Fasson. Die Kippa in der Öffentlichkeit zu tragen, stellt ein Risiko dar.
Viele Passagen der autobiografischen (auf Französisch bereits 2022 erschienenen) Graphic Novel „Die Synagoge“ von Joann Sfar erinnern frappant an heute. Im Nachhall des Massakers der Hamas am 7. Oktober häuften sich antisemitische Angriffe, insbesondere in Frankreich, die Sicherheitsmaßnahmen vor Synagogen und Schulen wurden verstärkt. Damals wie heute macht sich Judenhass an allen möglichen Stellen der Gesellschaft breit, sind auch Linke fixer Bestandteil der antizionistischen Bewegung.
Blutrünstige Agenda
Im Zuge seiner Wachdiensttätigkeit recherchiert der junge Sfar im rechtsextremen Milieu und beobachtet Prozesse gegen Neonazis. Eines Tages besucht er den Vortrag eines Vertreters einer propalästinensischen Splittergruppe an der juristischen Fakultät der Universität Nizza. Im Grunde sei die Gruppe dafür, „dass man alle Juden ins Meer wirft“, notiert Sfar über die Zeichnungen des charmanten, gut aussehenden Vortragenden, der von den Studierenden angehimmelt wird. „Eine eindeutige blutrünstige Agenda, die die Zuhörer offenbar begeistert.“
Episoden wie diese knüpft Sfar, analog zur oft sprunghaften Erinnerung, lose aneinander. Seine gewohnt krakeligen, bunten Zeichnungen strahlen eine warme Plastizität aus. Trotz der beklemmenden Thematik moralisiert er nicht, bleibt nüchtern in seiner entwaffnenden Direktheit und wird dann am stärksten, wenn er das Humoreske, die Situationskomik hervorkehrt. Mit seinem lockeren Zeichenstil wechselt er so unvermittelt wie mühelos die Zeitebenen, um immer wieder in der Gegenwart haltzumachen.
Bekannt wurde der 1971 geborene Vielschreiber – er hat in den letzten 30 Jahren an die 200 Werke, vorwiegend Comics, veröffentlicht – vor allem durch seine Reihe „Die Katze des Rabbiners“, die im Algier der 1920er-Jahre spielt. Aus Algerien stammt Sfars Vater, der als Jude keinen Widerspruch darin sah, gemeinsam mit den arabischen Nationalisten gegen die französischen Kolonialisten zu kämpfen. Nachdem er von Faschisten verprügelt worden war, wanderte er nach Frankreich aus. Sfars Mutter, eine Musikerin und Holocaustüberlebende aus der Ukraine, starb, als er ein kleines Kind war. Joann Sfar, der sich seit langem für eine Zweistaatenlösung einsetzt, bezeichnet sich daher als halb Aschkenase, halb Sepharde. Auch wenn er versichert, nicht religiös zu sein. „Ich habe mich immer aus allem Jüdischen herausgehalten“, schreibt er. „Das Einzige, woran ich je geglaubt habe, ist Balagan, das Chaos.“
Hakenkreuze im Klassenzimmer
Sein kulturelles Erbe und seine Familiengeschichte flossen immer wieder in sein Werk ein. Die Idee für den Rückblick auf seine Kindheit und Jugend kam ihm während der Corona-Pandemie auf dem Krankenbett, als ihm der Arzt aufgrund seiner schweren Covid-Erkrankung riet: „Sie müssen kämpfen.“ Und wie sich im Lauf des Buches herausstellt, war es für Sfar stets auch eine Frage des Kämpfens, mit Worten und auch mit Fäusten, wie die ständig auftauchenden Gespenster des Antisemitismus in Schach gehalten werden könnten. Auf der Reise in die Vergangenheit begleitet ihn der Geist des französischen Journalisten und Widerstandskämpfers Joseph Kessel, den er schon in jungen Jahren bewunderte.
Eine entscheidende Rolle in Sachen Kampfgeist spielte auch Sfars Vater, ein erfolgreicher Anwalt, der den Sohn gutbürgerlich erzog, im Namen der Gerechtigkeit aber auch vor Gewalt nicht zurückschreckte. „Mein Vater war der Anwalt vieler Gangster aus Nizza und hatte einige Neonazis ins Gefängnis gebracht. Er wurde wegen seines politischen Engagements bedroht und versteckte Gauner im Kofferraum seines Alfa Romeo bis zum Gericht. Ich sah ständig, wie er sich prügelte. Das faszinierte und traumatisierte mich gleichermaßen“, sagt Sfar.
Antisemitismus war schon früh Teil des Alltags: Als Joann Sfar ein Schulkind war, wurden die Wände seines Klassenzimmers mit Hakenkreuzen beschmiert, weil sein Vater vor Gericht die Auflösung rechtsextremer Splittergruppen erreicht hatte. Sie erhielten Drohanrufe und Särge per Post, schließlich bekam das Vater-Sohn-Duo Begleitschutz von der Polizei. „Es ist die Zeit, als die Wände in Nizza mit ‚Juden in den Ofen‘ beschmiert werden“, schreibt Sfar.
Gefühl der Machtlosigkeit
Die latente „Wahnsinnswut“, die ständig in dem jugendlichen Sfar brodelt, die Suche nach einem Feind, mit dem er sich messen kann, bringt ihn zum Kung-Fu und Krav Maga, dem israelischen Selbstverteidigungskampfsport. So weit, dass er seine hart erübten Techniken auch in der Realität zur Anwendung bringt, ist er aber nicht. Eher plaudert er mit dem Feind, lässt sich nicht provozieren von den Skinheads, kontert mit schlagfertigen Sprüchen und empfindet sogar Sympathien für einen „netten Nazi“ in seinem Sportklub. Das Bedürfnis, sich mit aller Kraft zu wehren, bleibt.
Als es 1984 zu einer Schändung des jüdischen Friedhofs in Nizza kommt und die Polizei zu keinem Ergebnis gelangt, nimmt die Synagogen-Wachschutztruppe eigenmächtig Ermittlungen auf – ohne Erfolg. Eine weitere Erfahrung, die das Gefühl der Machtlosigkeit gegenüber dem allgegenwärtigen Hass verschärft. Auch der Nahostkonflikt ist früh Thema im Hause Sfar. „Seit alle Juden der Welt zu potenziellen Zielscheiben geworden sind, ist das kein Kampf um Emanzipation mehr. Das ist Terrorismus“, zitiert Sfar seinen Vater, der mit ihm von klein auf offen und auf Augenhöhe über Gott und die Welt gesprochen hat. „Juden werden seit Jahrtausenden abgeschlachtet. Was jetzt passiert ist, ist leider das alte Pogrom“, kommentierte Sfar kürzlich den aktuellen Terrorakt der Hamas im Deutschlandfunk.
In seinem Lebensbericht nimmt er auch den Westen in die Pflicht: „Dieser Zorn auf jüdische Menschen ist eine Konstante, ich würde fast sagen, ein Bindeglied der westlichen Gesellschaften“, schreibt Joann Sfar im Nachwort. „Ich habe aufgehört zu kämpfen. Ich erzähle jetzt.“
Diese Kritik erschien zuerst am 10.12.2023 in: Der Standard – Comicblog Pictotop.
Joann Sfar: Die Synagoge • Aus dem Französischen von Annika Wisniewski • Avant-Verlag, Berlin 2023 • 208 Seiten • Hardcover • 30,00 Euro
Karin Krichmayr arbeitet als Wissenschaftsredakteurin für Der Standard. Außerdem betreibt sie für die österreichische Tageszeitung den Comicblog Pictotop.