Dexter in Lörzweiler

Der Kleinstadthorror-Comic „Postal“ erzählt von einem Sündenpfuhl voller Soziopath*innen, die ihre schlechten Angewohnheiten im Zaum halten wollen.

In Eden, dem fiktiven Schauplatz der Serie, leben 2.198 Menschen. Das entspricht etwa dem rheinland-pfälzischen Lörzweiler oder dem hessischen Kloppenheim – man sollte also nicht zu viel erwarten. Das Provinznest Eden hat es aber in sich: Dort siedeln sich nämlich ausschließlich Verbrecher*innen an, die unter der strengen Ägide der Bürgermeisterin versuchen, ihre zweite (und letzte) Chance zu nutzen, ein gemeinschaftsdienliches Leben zu führen.

Die Bürgermeisterin Laura Shiffron hat die Kontrolle über alle Institutionen der Gemeinde und unterbindet jegliche kriminellen Aktivitäten durch abschreckende öffentliche Hinrichtungen. Durch solche Maßnahmen wie auch durch das Verbot von Mobiltelefonen und eine Videoüberwachung der Stadt möchte sie vermeiden, dass Eden ungewollte Aufmerksamkeit auf sich zieht. Eden ist nämlich eine Phantomgemeinde, die selbst via Google Maps nicht zu finden ist.

Lauras Sohn Mark ist bei der Post angestellt und erledigt seine Aufgaben mit größter Akribie. Er leidet unter dem Asperger-Syndrom und hat infolgedessen eine Kommunikationsschwäche. Es fällt ihm schwer, seine Gefühle seinen Mitmenschen zu vermitteln, aber zugleich hat er eine außerordentlich scharfe Wahrnehmung. Er empfindet starke Gefühle für die Diner-Servicekraft Maggie, die mit seiner exzentrischen Art umzugehen versteht und ihm die Pommes so auf dem Teller drapiert, wie Mark es benötigt. Die beiden sind ein seltsames Paar, ohne ein echtes Paar zu sein, und begehren gegen die Obrigkeit aus verschiedenen Motiven auf. Dass sie auf dem Cover des ersten Bandes besonders in Szene gesetzt werden, ist also kein Zufall. Dort sehen wir Maggie und Mark in einer markanten Pose, die sich unschwer als Pietà interpretieren und auf ein Gemälde von William-Adolphe Bouguereau von 1876 zurückführen lässt.

Nun ist Maggie nicht die Gottesmutter, und Peter ist kein Christus – wir haben es also keineswegs mit einem Christus-Comic wie „Second Coming“, „The Chosen One“ bzw. „American Jesus“ von Mark Millas und Peter Gross oder „Punk Rock Jesus“ von Sean Gordon Murphy zu tun. Allerdings hat Mark in der Stadt Eden, die keine Sünden zulässt, in der zugleich aber alle Menschen per definitionem Sünder sind, eine besondere Stellung. Seine psychische Verfassung macht ihn zu einer kindhaft-unschuldigen Figur, die keinerlei Böses im Sinn hat, aber durch seine Erziehung durch einen gewalttätigen Vater und eine korrupte Mutter erscheint er nicht als verlässliche politische Alternative in Eden.

Der junge Schweizer Verlag Skinless Crow veröffentlicht seit Ende letzten Jahres fleißig Horror-Comics, darunter manche Highlights wie die fantastische Serie „Nailbiter“ von Joshua Williamson und Mike Henderson (gerade ist der zweite Band erschienen) oder „Harrow County“ von Cullen Bunn und Tyler Crook. „Postal“ kommt mit wenig Blut und wenigen abgetrennten Körperteilen aus. Das Grauen entsteht vor allem im Kopf der Leser*innen.

Die ursprünglich von 2015 bis 2018 bei Top Cow in 25 Heften erschienene Serie „Postal“ wurde 2019 mit „Postal: Deliverance“ fortgesetzt. Die deutschsprachige Skinless-Crow-Ausgabe ist auf sieben Bände angelegt, deren dritter im September erschienen ist. Die beiden ersten Bände umfassen die ersten acht Kapitel der Serie sowie den im November 2015 veröffentlichten One Shot „Postal: Dossier“, der vor allem Textdokumente zur Erläuterung der Hintergründe enthält. Während der erste Band das Setting sehr rasch etabliert, verliert der zweite sich ein wenig in Nebenhandlungen um einen einarmigen Boxer und eine suizidale Drogenmischerin.

Im dritten Band nimmt die Handlung wieder Fahrt auf: Die mysteriöse Molly kommt in die Stadt und wirbelt dort einiges auf. Nachdem sie allen als unbedarftes Großstadtmädel erscheint, erkennt Mark als erster, dass sich hinter der naiven Fassade eine kaltblütige Soziopathin verbirgt.
Laura hält ihre schützende Hand über sie, auch nachdem sie drei Leichen in einer Bar hinterlässt – immerhin handelt es sich um die Tochter eines FBI-Agenten, der das Geheimnis von Eden zu wahren versucht. Als sie aber Maggie, Marks beste Freundin, angreift, ist Schluss mit lustig – nun trifft sie auf jemanden, der noch kaltblütiger ist als sie selbst.

Während im Inneren der Stadt ein Kampf zwischen Mark und Molly entbrennt, droht ein FBI-Agent neugierig zu werden, was es mit dieser geheimnisvollen Stadt auf sich hat. Diese Kombination aus einem innerem und äußeren Konflikt ist zwar ein erzählerischer Standard, funktioniert aber auch gut, um Spannung zu erzeugen. Bedauerlich ist, dass die Serie die in den ersten Kapiteln noch angelegte Pointe mit dem Christusvergleich völlig aus dem Blick verliert – darin läge doch noch einiges Potential.

Nebenbei: Weil gerade der 60. Jahrestag des Attentats auf John F. Kennedy vergangen ist, fällt doch auf, wie stark der Niederschlag dieses Ereignisses in US-Comics bis heute ist. Nicht nur in „American Jesus“ von Mark Millar und Peter Gross (gerade bei Panini abgeschlossen und auf Netflix verfilmt), auch in „Mind MGMT“ von Matt Kindt (ebenfalls bei Skinless Crow) wird der Moment des Attentats festgehalten. Und das ist natürlich nur die Spitze des Eisbergs von Comics, in denen es nur am Rande eine Rolle spielt (Alan Moores und Dave Gibbons‘ „Watchmen“) bis hin zu Comics, in denen dies im Fokus steht („Regarding the Matter of Oswalds Body“, „The Department of Truth“). Auch in „Postal“ spielt das Attentat vom 22. November 1963 eine eher randständige Rolle, denn Mark braucht die Hilfe eines Scharfschützen für seinen Plan, und dessen Spitzname ist „Dallas“. Nomen est omen.

Vom Cover darf man sich übrigens nicht täuschen lassen – der dritte Band der deutschsprachigen Ausgabe hat das Coverbild, das im Original der vierte trägt. Don’t judge a book… Weiterhin fällt auf, dass die Zeichnungen von Isaac Goodhart, vor allem seine Figurendarstellungen, unglaublich steif und ungelenk sind. Auch beim Anblick der Proportionen muss man schon öfter ein Auge zudrücken, um der eigentlichen spannenden Story mit Freude folgen zu können. Und das lohnt sich eigentlich, weil die Serie doch einigen Charme, nicht unähnlich der TV-Serie „Dexter“ hat, dessen Held ähnlich amoralisch handelt und dennoch die Sympathien des Publikums verdient hatte.

Bryan Hill (Autor), Isaac Goodhart (Zeichner): Postal Band 3 • Aus dem Amerikanischen von Katrin Aust • Skinless Crow, Bern 2023 • 104 Seiten • Softcover • 29,50 Euro

Gerrit Lungershausen, geboren 1979 als Gerrit Lembke, hat in Kiel Literatur- und Medienwissenschaften studiert und wurde 2016 promoviert. Er hat Bücher über Walter Moers, Actionkino und den Deutschen Buchpreis herausgegeben. 2014 hat er zusammen mit anderen das e-Journal Closure gegründet und ist bis heute Mitherausgeber. Derzeit lebt er in Mainz und schreibt für Comicgate.de, Alfonz und die Comixene. An der TU Hamburg-Harburg unterrichtet er Comic-Forschung.