In „Schon gehört, was Ed Gein getan hat?“ dokumentieren Harold Schechter und Eric Powell nüchtern und analytisch die Taten des Plainfield Ghoul – und ihr kulturelles Echo.
„Mutter! Was hat du getan?“, lauten Norman Bates berühmte Worte. Dass der verwirrte Motelbetreiber die Leiche seiner Mutter im Keller aufbewahrt, sich selbst Schürze und Perücke überstreift und seine weiblichen Gäste meuchelt, ist mittlerweile im kollektiven Filmgedächtnis angekommen. Dass diese wüste Geschichte aber keineswegs Alfred Hitchcocks perfidem Geist oder der sensationsversierten Feder von Robert Bloch entsprang, der die Romanvorlage lieferte, sondern auf wahren Begebenheiten beruht, die die literarische und filmische Version an Abartigkeit weit übersteigen, das geriet über die Jahre ein wenig in Vergessenheit.
In diese Hintergründe kann man nun mit der Graphic Novel „Schon gehört, was Ed Gein getan hat?“ eintauchen, die der Serienmörder-Spezialist Harold Schechter auf Basis von historischen Dokumenten, Verhörprotokollen und Zeitungsberichten ausbreitet. Schechter skizziert die Lebensgeschichte von Ed Gein, der sich als „Plainfield Ghoul“ Ende der 50er ins US-amerikanische Bewusstsein einbrannte, als die Ermittlungen zum Mord an Bernice Worden die Polizei zum wunderlichen Ed und seiner abgelegenen Farm führten, wo man abgeschnittene Nasen, Schüsseln aus Schädelknochen, Masken aus menschlichen Gesichtern und Wordens Leichnam findet, der wie ein Tier ausgeweidet aufgehängt wurde.
In Rückblenden zeichnet Schechter die Entwicklung Geins nach, der aus einer zerrütteten Familie stammte, in der der alkoholkranke Vater die beiden Söhne schlägt, während die tyrannische Mutter Augusta Gein immer tiefer einem religiösen Wahn verfällt und jede menschliche Regung als sündig verteufelt. Nach dem Tod des Vaters 1940 steigert sich ihre Psychose so weit, dass Eds Bruder Henry die heruntergekommene Farm in der Nähe von Plainsfield verlassen will. Dazu kommt es allerdings nicht: Henry stirbt unter mysteriösen Umständen; bald munkelt man, Ed könnte etwas damit zu tun haben. Nach dem Tod der Mutter im Jahr 1945 verliert sich Ed zunehmend in seinem wachsenden Wahn.
1957 konfrontiert ihn die im Mordfall Bernice Worden ermittelnde Polizei, schnell steht Ed als Haupttatverdächtiger fest. Bei der Durchsuchung der Farm, die auch die Nerven der hartgesottenen Gerichtsmediziner aufs Äußerste belastet, finden die entsetzten Polizisten unter den Gesichtsmasken auch den Kopf von Mary Hogan, die 1954 unter ungeklärten Umständen verschwand. Ed wird verhaftet, und die Ermittlungen und Durchsuchungen ein verstörendes Bild zeichnen: Offenbar versuchte der geistig zutiefst derangierte Ed, sich mit weiblichen Leichenteilen als Frau zu verkleiden und damit der toten Mutter zugleich nahe zu sein und sie zu besiegen. Die nachfolgenden psychiatrischen Untersuchungen attestieren ihm Schuldunfähigkeit aufgrund einer schizophrenen Persönlichkeitsstörung, sodass Ed für Jahrzehnte in Sicherheitsverwahrung landet, während seine grausigen Taten den Weg in die US-Kultur finden.
Vor Ed Gein, so eine der zentralen Aussagen eines Wissenschaftlers, gab es Bedrohungen nur aus dem All, aus Transsylvanien oder von der Atombombe. Mit Ed Gein zog das Grauen direkt in die Nachbarschaft, er war das erste „All American Monster“, das die Inspiration für zahllose ikonische Horrorfiguren lieferte: Norman Bates in „Psycho“, Leatherface („Texas Chainsaw Massacre“), Buffalo Bill („Das Schweigen der Lämmer“).
Bemerkenswert ist das Katz-und-Maus-Spiel, das Gein mit den Ermittlern veranstaltete: War er nur naiv oder wiederholte er absichtlich die ständige „Das kann gut sein“-Phrase in den Verhören? Schechter lässt diese Fragen offen, ebenso die Interpretation von Geins Psychose: Anfänglich als erster populärer Fall eines Oedipus-Komplexes kolportiert, gibt es auch andere Deutungen, die in Eds Taten eine bizarre individualistische Religion identifizieren: Waren die Inkas oder die Kopfjäger der von ihm verschlungenen Groschenromane ein Vorbild, als er die Körper seiner Opfer überstreifte, um seinem Gott, der Mutter, zu huldigen?
Schauerlich erscheint in jedem Falle die Tatsache, dass Gein, dem erst 1968 nach Feststellung seiner Zurechnungsfähigkeit der Prozess gemacht wurde, zwar nie mehr auf freien Fuß kam, aber hinter den Mauern von Sanatorien noch bis 1984 lebte, während 1983 die „Psycho“-Mär in einem Sequel wieder aufgerührt wurde. Dieses Kaleidoskop menschlicher Abgründe inszeniert Eric Powell (Zeichner der schwarzen Satire „The Goon“) atmosphärisch in Schwarz-Weiß, mit suggestiven Szenen, in denen die Mutter übergroß erscheint. Details werden nicht ausgespart und auf einigen Seiten und Panels scheint der Stil der seligen EC-Comics durch, denen Fredric Wertham ebenfalls in den 50ern zu Leibe rückte. Insofern ein schockierendes Dokument über den ersten modernen Serienmörder, dessen Untaten ihn schnell zum urbanen Mythos machten, wie ein Journalist erkennt: „Ein mythologisches Wesen. Hat wohl mit der menschlichen Vorstellungskraft zu tun. Wenn ein mörderischer Wahnsinniger wie Gein auftaucht, kann der Verstand die Realität einfach nicht erfassen. Also wird er zur Legende.“
Dieser Text erschien zuerst auf Comicleser.de.
Harold Schechter (Autor), Eric Powell (Zeichner): Schon gehört, was Ed Gein getan hat? • Aus dem Englischen von Bernd Kronsbein • Splitter Verlag, Bielefeld 2023 • 224 Seiten • Hardcover • 35,00 Euro
Holger Bachmann ist Autor diverser Bücher und Aufsätze zur Film- und Literaturgeschichte. Neben Comicleser.de schreibt er auf kühleszeug.de über Konzerte und geistvolle Getränke.