„Alles, was in dem Buch gesagt wird, ist wahr“

„Schon das bunte, wildwüchsige Album-Cover dieser schlicht „Quentin Tarantino“ (OT: „Quentin par Tarantino“) betitelten Graphic Novel, die der französische Comic-Zeichner Amazing Ameziane gestaltet hat, stimmt angemessen beziehungsreich auf die folgende biografische Bilder-Erzählung ein. Von einem Stapel Videokassetten, einem Godard-Filmplakat zu „Bande à part“, zahlreichen Fan-Artikeln, einem Baseballschläger, einem Kriminalroman bis hin zur Oscar-Trophäe sind hier verspielt und detailreich jene Elemente versammelt, die sich als Referenzen und Einflüsse durch das Leben und Werk des US-amerikanischen Filmregisseurs ziehen. (…) Der zu Beginn der 1970er Jahre als Améziane Hammouche geborene Comic-Künstler integriert in seiner Comic-Biografie Tarantinos postmoderne Stilvielfalt, indem er dem Buch nacheinander den Look einer VHS-Videokassette, einer Comic-Serie, vor allem aber eines dokumentarischen Interviews gibt, in dem sich der Portraitierte mit sich selbst unterhält. Die Zeichnung wechselt dabei von kleinteiligen Panels, über markante talking heads bis hin zu Portraits in Plakatgröße, die dann eine ganze Seite dominieren. Sprunghafte Schnitte und Szenenwechsel erinnern an Filmtechniken und machen die packende Erzählung immer wieder überraschend.“ So beschreibt Wolfgang Nierlin Amezianes Comicbiografie zu Quentin Tarantino in seiner Comic.de-Kritik. Im folgenden Presse-Interview spricht der Zeichner über die Hintergründe seines Werks.

Lieber Amé, danke, dass du dir die Zeit nimmst, mit uns über dein neues Comicprojekt „Quentin Tarantino“ zu sprechen. Könntest du uns eingangs ein wenig über dich und deinen Comicwerdegang erzählen? Wann hast du das Comicmedium für entdeckt? Und wann und wie bist du beruflich in die Branche eingestiegen?

Meinen Einstand in die Welt der Comics hatte ich mit „The Amazing Spider-Man“ #94 von Gil Kane, wenige Monate vor Gwen Stacys Tod (Spoiler für einen 40 Jahre alten Comic). Aber eigentlich war es „Daredevil“ von Frank Miller, der es mir wirklich angetan hatte. Einige Jahre nach „Daredevil“ erschien die Miniserie „Ronin“, die Miller nicht nur geschrieben und gezeichnete hatte, sondern auch selbst herausgab. Das hat mir so imponiert, dass ich beschloss, dass ich genau das auch tun wollte, um meinen Lebensunterhalt zu verdienen. Auch wenn ich dafür eine Ein-Mann-Armee sein müsste. Also lernte ich alle dazugehörigen Berufe, nur für den Fall… Ich absolvierte eine Hochschule für Kunst und Werbegrafik, arbeitete ein Jahrzehnt lang als freiberuflicher Illustrator, Grafikdesigner und Art Director für ein Hip-Hop-Magazin (ähnlich wie Darwyn Cooke). Und als ich dann sah, wie das zweite Flugzeug in die Türme stürzte, beschloss ich, endlich Comiczeichner zu werden. Ich dachte mir, da wir jetzt eh alle sterben werden, kann ich auch gleich als Comiczeichner meinem Ende entgegensehen.

Bis dato bin ich noch nicht gestorben, aber bis es so weit ist, mache ich Bücher, um den Arbeitenden der Welt die Last des Alltags zu erleichtern. Ganz besonders freut es mich, dass meine Graphic Novels auf der ganzen Welt veröffentlicht werden. Jede neue Übersetzung ist ein Geschenk für mich, um neue Leser*innen zu erreichen und ihnen Freude zu bereiten. Einige meiner Bücher sind Unterhaltung pur, andere haben den Anspruch, über dunkle Flecken der Geschichte des letzten Jahrhunderts aufklären.

Du hast bereits an mehreren anderen Comicbiografien gearbeitet, unter anderem über Muhammad Ali, Martin Scorsese und Francis Ford Coppola. Was reizt dich persönlich an diesem Genre?

Als ich an der Comicbiografie von Martin Scorsese gearbeitet habe, habe ich erst bemerkt, dass von den 26 Filmen, die er bis zu dem Zeitpunkt umgesetzt hatte, neun Biografien waren. Scorsese hat ein Faible für das echte Leben, genauso wie ich. Ich finde Geschichten faszinierend, die wirklich passiert sind, die wirklich gelebt wurden. Solche Geschichten werden stets um etliches komplexer sein als pure Fiktion. Alan Moore hat einmal gesagt: „Ich könnte jeden x-beliebigen Menschen auf der Straße ansprechen, und sein Leben wäre um 100 % interessanter als das von Superman.“ Daran glaube ich wirklich. Fiktion folgt oft narrativen Konventionen: Wenn in einem Film etwas Düsteres passiert, kann man fast auf die Minute genau vorhersagen, wann sich die Situation auflöst, weil z. B. jemand zufällig im richtigen Moment auftaucht. Wenn im wirklichen Leben etwas Schlimmes passiert… kann man 127 Stunden unter einem Felsen feststecken und einen Arm verlieren. Solche Geschichten werden stets viel packender sein. Als Autor habe ich bislang nur an Biografien von Menschen gearbeitet, die ich persönlich bewundere. Ich wollte ihre Lebensgeschichten bekannter machen, deshalb hatte ich mir Menschen wie Frank „Big Black“ Smith (vom Attica-Aufstand), Muhammad Ali, Angela Davis oder eben einige der größten Regisseure aller Zeiten ausgesucht.

Die Geschichte wiederholt sich, wie man weiß. Also haben wir die Verantwortung, die Lebensgeschichten von so vielen Menschen wie möglich festzuhalten, um sicher zu sein, dass die Lehren aus ihren Leben gezogen werden. Und meistens haben diese wunderbaren Persönlichkeiten wunderbare Leben, die einfach danach schreien, erzählt und gezeichnet zu werden. Ich hatte so viel Freude daran, das Leben von Muhammad Ali zu zeichnen, dass dieses Buch für die nächsten Jahre zu meinem neuen Stil wurde. Ich fragte mich einfach: „HWBSDI“ („How would Bill Sienkiewicz do it?“) – und setzte seinen Ansatz mit meinen eigenen Mitteln um, die zwar weit weniger stark als seine sind, aber stark genug, um den Lesern auf der ganzen Welt Freude zu bereiten.

Wann und warum hast du dich entschieden, über das Leben von Quentin Tarantino und seine Filme zu erzählen? Welche Bedeutung haben QT und seine besondere Art, Geschichten zu erzählen, für dich als Künstler und Autor?

Das erste Buch meiner „Cine-Trilogie“ habe ich meinem Lieblingsregisseur gewidmet: Martin Scorsese – und mein Skript hatte 384 Seiten! Sprich, es ist ein bisschen mit mir durchgegangen. Das Buch war so umfangreich, dass der Verleger mich bat, es als Softcover herauszugeben zu dürfen, um Buchhändler*innen Leistenbrüche und Rückenschäden zu ersparen. Der zweite Name auf meiner Liste war Quentin Tarantino. Sein Name ist übrigens schon öftes in Zusammenhang mit meinen Comics gefallen, vor allem bei einigen meiner Krimis und Thriller, die ähnlich wie bei Tarantino von One-Linern und witzigen Dialogen leben. QT (wie er von seiner Mutter genannt wurde) hat ein ziemlich großes Universum geschaffen, das TCU (Tarantino Cinematic Universe), das Tausende von Kreativen auf der ganzen Welt inspiriert hat, mich eingeschlossen. Also habe ich mir monatelang Youtube-Interviews von QT angehört, um seinen einzigartigen Dialekt und seine Sprachmuster zu verstehen, und ich habe alle aktuellen Informationen aus den letzten Podcasts, die er während der Werbetour seines ersten Romans gegeben hat, zusammengetragen und auf diese Weise 60 % der Dialoge des Buches erstellt. Die restlichen 40 % habe ich aus bereits vorhandenen Dingen, die er gesagt hat, auf meine Art und Weise nachgebildet, damit sie in die Erzählung des Buches passen. Ich wusste, dass dieses Buch mehr Spaß machen würde als die anderen in der „Cine-Trilogie“-Sammlung, wegen der Art und Weise, wie QT spricht. Ah, ja, ich vergaß zu präzisieren, dass alle Bücher der Sammlung in der ersten Person geschrieben sind, QT präsentiert sich und sein Leben. Er spricht direkt zu uns. All diese Bücher sind als „Film aus Papier“ aufgemacht, mit einer Titelkarte und all diesen Tricks. Die Rückseite ist eine gefälschte DVD-Hülle mit vielen kleinen lustigen Details.

Tarantinos Stil wurde als postmodernes Collage-Kino bzw. Hommage an andere Epochen der Filmgeschichte beschrieben. Du spiegelst in deinem Artwork seinen Tribut-Stil wider: Du zeichnest Seiten im klassischen „Marvel“-Stil, imitierst Zeitungs-Strips, wechselst von realistischen Zeichnungen zu Funny-Cartoon-Figuren usw. Könntest du uns ein wenig über diesen visuellen Ansatz erzählen?

Mein Stil ist im Wesentlichen eine Mischung aus Frank Miller, Bill Sienkiewicz und Katsuhiro Otomo. In meinem Kopf geht es also stets ein bisschen chaotisch und laut zu; eine gespaltene künstlerische Persönlichkeit. Ich liebe es, meine Arbeit mit einer bestimmten Epoche zu verbinden und damit auch mit dem grafischen Stil dieser Zeit – nicht zuletzt, um meinen Leser*innen den größtmöglichen Spaß zu bieten. Ich weiß, wie hartgesottene Fans von QT drauf sind, denn ich bin einer von ihnen. Also habe ich mein Buch für drei Zielgruppen gemacht: 1. die normalen Leser*innen, die Filme mögen, 2. Fans von QT, die sich aber nicht allzu fanatisch mit seinem Oeuvre beschäftigen, und 3. die Hardcore-Fans und Profis aus Filmbranche und Filmkritik, die Easter Eggs und Referenzen, die ich sorgfältig überall versteckt habe, entdecken werden. Falls du zur 1. Kategorie gehörst, kannst du mein Buch ohne Probleme genießen, aber den größten Spaß mit meinem Comic werden sicherlich die Gruppe-3-Profis haben.

Du hast es ja schon erwähnt: Du lässt QT selbst seine eigene Geschichte erzählen. War es eine große Herausforderung, diese fiktionale Tarantino-Stimme zu erschaffen und in seine Haut zu schlüpfen?

Ich nutze nur Informationen, die aus QTs Mund stammen. Es werden zu viele verrückte, dumme Dinge über ihn erzählt, und wenn er etwas selbst nicht gesagt hat, dann traue ich der Anekdote nicht. Es gibt natürlich Dutzende Biografien über Tarantino, aber die habe ich lieber gemieden. Jedes Buch über einen Künstler zeigt vorrangig die Sicht des Autors, je nachdem auf welche Fakten und Quellen es sich stützt und welche es weglässt. Das interessiert mich nicht, ich will nur die QT-Version seiner Lebensgeschichte, denn die ist witziger und oft auch schlüpfriger (deshalb habe ich die Hälfte der Sprüche im Buch zensiert. Ihr wisst, dass sie da sind, aber ich wollte kein Buch schreiben, das wie eine Figur aus „Django Unchained“ klingt…).

Ich habe QT als fiktionale Figur neu erfunden. Dafür musste ich ihn in all seine Charaktereigenschaften zerlegen, um zu verstehen, wie er als Comicfigur glaubhaft funktionieren könnte. Ich habe seine Art zu sprechen verinnerlicht, wie er tickt, wie er Geschichten erzählt. Und das alles habe ich in die Erzählstruktur meines Buches eingebaut. Ich wusste, welche Zeilen nützlich waren und welche ich verwenden musste, um den richtigen Rhythmus zu finden. Und ich habe immer darauf geachtet, dass alles lustig ist. Denn seine Interviews sind immer lustig. Alles, was in dem Buch gesagt wird, ist wahr. Selbst die unglaublichsten Stellen stammen von QT.

Eine weitere wichtige Figur in deinem Buch ist der mexikanische Regisseur und Produzent Robert Rodriguez, ein langjähriger Weggefährte von QT. Warum hast du ihm eine so wichtige Rolle in deinem Buch eingeräumt? Wie groß war/ist sein Einfluss auf QTs Kunst und umgekehrt?

Robert Rodriguez ist ein sehr intelligenter und talentierter Regisseur, der nie so respektiert wurde, wie er es verdient hätte. Aber er ist wie Joe Frazer: In einer Welt, in der alle Augen auf Muhammad Ali gerichtet sind, sieht niemand dich und dein Talent. Ich wollte ihn stärker ins Licht rücken, weil sie sich sehr nahestehen und gut zusammenarbeiten. Wusstest du, dass Rodriguez in „Pulp Fiction“ in den Szenen, in denen Tarantino Jimmy, den Ehemann von Bonnie, spielt, Regie führte? Das wird nirgends erwähnt. Er hat das für seinen Freund gemacht. Rogriguez schrieb einen Song für „Kill Bill“, er hat dafür sage und schreibe 1 Dollar in Rechnung gestellt und sich das Versprechen geben lassen, dass QT im Gegenzug als Gastregisseur bei seinem nächsten Projekt mitwirkte. Das war „Sin City“ mit Frank Miller und das erste und letzte Mal, dass QT mit einer Digitalkamera gefilmt hat. Er hasst das und hat es für seinen Freund getan. Dieser Mann hat sich seinen Platz als Hauptfigur des kompletten 3. Kapitels meines Buches verdient. Und ich wollte außerdem auch das Leben von Danny Trejo erzählen.

Ein großer Teil deines Buches handelt von all den Projekten, die Tarantino nicht verwirklichen konnte, von den Romanen und Filmen, die er nie geschrieben/umgesetzt hat. Um welches von den nie realisierten Projekten ist es deiner Meinung nach besonders schade?

Ohne zu zögern sage ich „Killer Crows“, die Fortsetzung von „Inglourious Basterds“. Ich habe ein Faible für Weltkriegsgeschichten (ich habe selbst mal einen Comic mit dem Titel „Nazi Killers – Ministry of the Ungentlemanly Warfare“ geschrieben), und ich liebe Filme über den Zweiten Weltkrieg. Mein größter Traum ist es, aus diesem Drehbuch eine Graphic Novel zu machen. QT, ruf mich an…

Kürzlich wurde bekannt, dass Brad Pitt die Hauptrolle in QTs zehntem und vermeintlich letztem Film „The Movie Critic“ spielen wird, der 2025 in die Kinos kommen soll. Gerüchten zufolge wird der Streifen stark von der legendären Filmkritikerin Pauline Kael beeinflusst sein, deren Texte Tarantino verehrte. Was sind deine Erwartungen an den letzten QT-Film? Was würdest du gerne in seinem großen Finale sehen?

Ich erwarte einen echten Siebziger-Jahre-Film wie „Taxi Driver“. Und ich vermute mal ganz stark, dass Tarantino alle seine Freunde einladen wird, so wie Marty in „The Irishman“. Ich erwarte zweieinhalb Stunden voller irrwitziger Geschichten, schockierender Wendungen und spaßiger Gewaltausbrüche mit unglaublichen Charakteren. Ich denke, das wird Tarantinos endgültiger Kommentar zu Hollywood und der Filmkunst. Und vor allem wird das sicherlich ein guter Film. Es gibt ein Zitat von John Ryden: „Hüte dich vor der Wut des geduldigen Mannes.“

Amazing Ameziane: Quentin Tarantino • Aus dem Französischen von Christoph Haas • Splitter Verlag, Bielefeld 2024 • 240 Seiten • Hardcover • 35,00 Euro