Don’t feed the Troll

In „Die Trollbrücke“, der dritten Zusammenarbeit zwischen Neil Gaiman und Colleen Doran, verliert die kindliche Hauptfigur ihren moralischen Kompass nach einer folgenschweren Begegnung mit einem Monster.

Irgendwo am Rande einer Stadt in England, schon fast auf dem Land, lebt der siebenjährige Jack. Er liest gerne und erkundet neugierig die Gegend, geht auf Entdeckungsreisen. Eines Tages findet er einen Pfad und folgt ihm. An einer Brücke überrascht ihn ein Troll, halb durchsichtig, nackt, mit gewaltigen Hauern, hässlichen Glupschaugen und schlechtem Atem. Der Troll will Jacks Leben „fressen“, was immer das bedeuten mag. Doch Jack zeigt keine Angst vor dem Monstrum. Er windet sich und überzeugt den Troll, ihn gehen zu lassen, nicht ohne ein Versprechen: Er habe sein Leben noch nicht gelebt, sei noch so jung und würde ganz sicher wiederkommen, wenn er älter sei. Acht Jahre später: Jack ist ein Teenager, er steht auf Musik und ist in Louise verliebt. Bei einem romantischen Tête-à-Tête finden sich die beiden unter einer uns inzwischen wohl bekannten Brücke wieder.

Auch das wird nicht die letzte Begegnung Jacks mit dem Troll sein. Denn auch mit 15 hat man sein Leben noch vor sich. Jack ist unser Protagonist, der hier als Ich-Erzähler fungiert. Und schon als Kind beim ersten Treffen mit dem Troll zeigt er egoistische und erstaunlich unsympathische Wesenszüge, bietet er dem Unhold doch statt ihm seine Schwester zum „Verzehr“ an. Was man als „Kindheitssünde“ abtun könnte, hätte Jack nicht Jahre später ebenso wenig ein Problem, gleiches mit Louise vorzuschlagen. Nicht gerade die feine englische Art. Hier könnte man bereits ahnen, dass es mit Jack kein glückliches Ende nehmen wird. Wie so oft bei Neil Gaiman ist der Protagonist ein Kind oder ein Jugendlicher, der Einschneidendes und Phantastisches erlebt, was ihn zeitlebens prägen wird. Hier schwebt das Vorhaben des Trolls wie ein Damoklesschwert über Jack, auch wenn ihm das seltsam unbewusst erscheint.

Colleen Doran hat bereits zwei Gaiman-Kurzgeschichten als Comic adaptiert. Mit „Snow, Glass, Apples“ und zuletzt „Ohne Furcht und Tadel“ (beide ebenfalls im Rahmen der Neil Gaiman Bibliothek bei Splitter erschienen – weitere Bände daraus hat der Dantes Verlag im Programm) zeigt sie, dass sie dessen gleichsam märchenhafte und unheimliche Atmosphäre bestens visualisieren kann. Auch „Die Trollbrücke“ (bereits 2016 im Original erschienen) ist elegant und fließend erzählt, durchzogen von einer Spur Melancholie, die immer breiter wird. Mit ihrem sanften, fast gemäldeartigen Zeichenstil schlägt die u. a. mit dem Eisner Award ausgezeichnete Doran in eine ähnliche Kerbe wie John Bolton oder Jon J. Muth. Dennoch kann sie auch düster. Findet die erste Begegnung Jacks mit dem Troll in einer kräftigen, hellen Farbumgebung statt, wird die Kolorierung bei den künftigen Treffen immer finsterer, bis schließlich zum Finale dunkle Farben das Geschehen rund um Jack bestimmen. Wie tatsächlich alle Beiträge zur Neil Gaiman Bibliothek ist auch dieser gelungen und lesens- wie sehenswert.

Dieser Text erschien zuerst auf: Comicleser.de

Neil Gaiman (Autor), Colleen Doran (Zeichnerin): Die Trollbrücke • Aus dem Englischen von Gerlinde Althoff • Splitter Verlag, Bielefeld 2023 • 64 Seiten • Hardcover • 18,00 Euro

Bernd Weigand ist schon über vier Jahrzehnte in Sachen Comics unterwegs: lesen, sammeln, übersetzen. Schreibt auch seit 20 Jahren über Comics, seit 2010 auf comicleser.de.