Töchter mit Geheimnissen

Die Romantic Comedy lebt: Die französische Zeichnerin Lucie Bryon erzählt in der Graphic Novel „Diebin“ von jungen Frauen und Klassengegensätzen.

Boy meets girl: Auf dieser schlichten Zauberformel beruht das Genre der Romantic Comedy. Zwei treffen einander, verlieben sich, alles ist super und lustig, dann gibt’s, kurz vor Schluss, eine Krise, aber das Happy End ist unvermeidlich. Das alles überwölbende Ideal ist die monogame Liebesehe, und dass das Liebespaar weiß und strikt hetero ist, versteht sich von selbst.

So hat es im Kino lange funktioniert – heute jedoch, im Zeichen von Diversity und #MeToo, nicht mehr so recht. Dass die RomCom dennoch nicht tot ist, sondern unter veränderten kulturellen Voraussetzungen durchaus ihren Charme bewahren kann, zeigt sich in „Diebin“, der sehr unterhaltsamen Graphic Novel der französischen Zeichnerin Lucie Bryon.

Ella steht kurz vor dem Abi­tur. Sie ist über beide Ohren in ihre Mitschülerin Madeleine verliebt. Auf einer Party in einem großen Privathaus gelingt es ihr endlich, über das stumme Anhimmeln aus der Ferne hinwegzukommen und einen ersten, flüchtigen Kontakt zu knüpfen. Leider betrinkt Ella sich danach hemmungslos und klaut im Vollrausch einige wertvolle Gegenstände aus einem Zimmer, in das sie auf der vergeblichen Suche nach einem WC geraten ist.

Am nächsten Morgen klingelt Madelaine bei der verkaterten Ella. Wie sich schnell herausstellt, erwidert diese ihre Zuneigung. Alles könnte bestens sein, allerdings muss Ella erfahren, dass das vornehme Anwesen, in dem die Party stattgefunden hat, Madeleines Elternhaus ist. Die entwendeten Sachen stammen somit aus Madeleines Zimmer. Was soll Ella nun tun? Soll sie gestehen, dass sie etwas Unrechtes getan hat, und damit ihre Liebe gefährden? Aber auch Madeleine, die höhere Tochter, hat, wie sich zeigt, Geheimnisse, die sie sorgfältig zu verbergen sucht.

Die Handlung in „Diebin“ wartet mit mehreren unerwarteten Wendungen auf, die allerdings nicht nur dazu dienen, die Spannung zu erhöhen, sondern auch die Figuren komplexer zu gestalten. Was deren zeichnerische Darstellung betrifft, besonders in Bezug auf Gesichtszüge und Mimik, ist Lucie Bryon stark vom Manga beeinflusst. Vorgänge im Innern verbildlicht sie gerne als visuelle Metaphern: So zeigt sie etwa die von ihren Gefühlen für Madelaine überschwemmte Ella in einer großen Welle treibend, die an die Woge des Hokusai erinnert.

Ein wenig geht es in „Diebin“ auch um Mobbing und Klassengegensätze und darum, wie wichtig Aufrichtigkeit und Vertrauen in einer Beziehung sind – primär ist dieser Comic aber die schwungvolle „Feelgood-Romanze“. als die er auf dem Backcover beworben wird.

Dieser Beitrag erschien zuerst am 12.02.2024 in der taz.

Lucie Bryon: Diebin • Aus dem Französischen von Silv Bannenberg • Reprodukt, Berlin 2023 • 206 Seiten • 20,00 Euro

Christoph Haas lebt im äußersten Südosten Deutschlands und schreibt gerne über Comics, für die Süddeutsche Zeitung, die TAZ, den Tagesspiegel, die Passauer Neue Presse und das Alfonz Magazin.