Eine Auswahl aktueller Comics – mit neuen Blickwinkeln auf Wissenschaftsgeschichte und Biografien bemerkenswerter Persönlichkeiten.
Die sexistische Brille abnehmen
Wie Frauen in der Urzeit Petersilie hackten. Das große Missverständnis des Alphamännchens. Wikipedia und der Friedhof der Nobelpreisanwärterinnen. Wann werden wir ganz ohne Männer auskommen? – Wie ein Blick auf die Kapitel in Lucia Silligs Band „Wissenschaft ist weiblich“ zeigt, versteht es die Schweizer Physikerin und Wissenschaftsjournalistin, klare Ansagen zu machen. In ihren 24 Essays, in denen Text und Zeichnungen ineinanderfließen, räumt sie auf mit sexistischen Vorstellungen, die sich tief in unser Bewusstsein gegraben haben. Das beginnt mit der Sicht auf die Rollenverteilung von Höhlenmenschen, die vom Geschlechterbild der Forscher im 19. Jahrhundert geprägt wurde, und reicht vom „Mythos des prüden Weibchens“ bis hin zu „Zombiefakten“ über Testosteron und den vermeintlich natürlichen Mutterinstinkt von Frauen.
Sillig legt den Finger in jede Wunde im wissenschaftshistorischen Getriebe und schaut ganz genau hin: Auf die lange vernachlässigte Klitoris, den Orgasmus-Gap, Hypothesen rund um Schambehaarung, die Gründe dafür, warum wir Brüste haben und Frauen kleiner als Männer sind. Neben Anthropologie und Biologie gibt auch die Neurowissenschaft einiges her, was die Dekonstruktion von Stereotypen betrifft, etwa die vermeintlichen Unterschiede in den Gehirnen zwischen Männern und Frauen.
Der Band, der zum Teil auf Silligs Beiträge für den Sender Radio Télévision Suisse zum Thema Wissenschaft und Feminismus basiert, bietet vor allem Fakten. Fundiert, pointiert, klar und entlarvend. Renommierte Forschende wie der Primatologe Frans de Waal, die Neurobiologin Gina Rippon und Lucy Cook, Zoologin und Autorin von „Bitch – Ein revolutionärer Blick auf Sex, Evolution und die Macht des Weiblichen im Tierreich“, kommen zu Wort. Das Buch reiht sich damit ein in eine feministische Wissenschaftskritik im Comicformat, die von Liv Strömquist losgetreten wurde.
Was das Buch aber wirklich zu einer nicht nur erhellenden, sondern amüsanten Lektüre macht, sind die Zeichnungen, einmal illustrierend, dann wieder kommentierend oder einfach nur treffend, immer den Schalk im Nacken. Da fällt es nicht schwer, die sexistische Brille abzunehmen, die uns oft den Blick darauf verstellt, wie wichtig es ist, dass die Wissenschaft weiblicher wird.
Lucia Sillig: Wissenschaft ist weiblich • Aus dem Französischen von Ulrike Rehberg • Helvetiq, Basel und Lausanne 2024 • 160 Seiten • Hardcover • 25,00 Euro
Atomare Aufrüstung
Mit 29 Jahren wird der Physiker Andrej Sacharow dazu beordert, an einem geheimen Atomforschungsprojekt zu arbeiten. Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg setzt die UDSSR alles daran, eine Antwort auf die amerikanischen Atombomben zu finden. Sacharow findet sie: Er war maßgeblich an der Entwicklung der russischen Wasserstoffbombe beteiligt – einer Waffe, die hundertmal stärker als die von Hiroshima war.
Doch Sacharow, der als „russischer Oppenheimer“ bezeichnet wurde, haderte von Beginn an mit der Aufgabe und lehnte sich schließlich offen gegen die sowjetische Politik auf. Eindrucksvoll und voller spannender Details zeichnet die Comic-Biografie „Andrej Sacharow. Der Mann, der keine Angst hatte“ den Lebensweg des späteren Friedensnobelpreisträgers nach.
Der Sohn eines Physikers tat sich schon während seiner Studienzeit als brillanter Denker hervor. Zunächst arbeitete er als Ingenieur in einer Munitionsfabrik, bevor er Teil des geheimen sowjetischen Kernwaffenprogramms wurde. Anhand von Episoden, in denen die persönlichen Erfahrungen immer wieder mit der geopolitischen Weltbühne verschmelzen, erzählt der Band, wie sich Sacharow inmitten des Kalten Kriegs vehement gegen die Verschleierung der fatalen Folgen von Atombombentests und der nuklearen Aufrüstung einsetzte und sich für die Menschenrechtsbewegung und gegen das Regime engagierte. 1980 wurde er verhaftet und verbannt, bis er 1986 vom Michail Gorbatschow wieder nach Moskau zurückgeholt wurde.
Für die Comic-Bio haben sich russische Historiker, Künstler, Schriftsteller und Archivare zusammengetan. Eine Vielzahl an historischen Fakten und persönlichen Erinnerungen wurde eingewebt in innovativ und abwechslungsreich gestaltete Doppelseiten, die immer wieder Anleihen an die sowjetische Plakatkunst nehmen. Ein gelungener Ansatz, diese bedeutende Persönlichkeit vor den Vorhang zu holen – ganz besonders im Lichte der heutigen Politik Russlands.
Ksenia Novokhatko et al: Andrej Sacharow. Der Mann der keine Angst hatte • Aus dem Russischen von Ruth Altenhofer und Jennie Seitz • Correctiv, Essen 2024 • 64 Seiten • Hardcover • 20,00 Euro
Social-Media-Wahn in den Highlands
Der schrullige Schotte Dough traut seinen Augen nicht, als zufällig vor seiner Haustür ein seltsames Wesen aus dem See auftaucht, eine Art haariges Nessie mit einem quallenartigen Kopf. In einem unbedachten Moment postet er die Bilder im sozialen Netzwerk „Twister“. Der Schnappschuss stellt nicht nur das Leben des ehemaligen Fotografen, der, von Selbstzweifeln geplagt, zurückgezogen in den Highland lebt, komplett auf den Kopf, das gesamte Dorf wird mitgerissen von der folgenden Lawine an Ereignissen.
Der Hype in den sozialen Medien verwandelt die abgeschiedene Idylle in einen Hotspot für Journalistinnen, Umweltschützer, Neugierdsnasen und Schaulustige. Der französische Comiczeichner Bruno Duhamel, der zuletzt in der Klimawandelerzählung „Niemals“ einen widerspenstigen Außenseiter in den Mittelpunkt rückte, hat nun mit „#Erstkontakt_“ eine herrlich komische Satire über Fake News, Social-Media-Wahn und die Zwänge von Klicks, Likes und Posts geschaffen.
Gezeichnet in einem klassisch französischen Stil à la Uderzo, vereint „#Erstkontakt_“ eine immer bizarrer werdende Story samt der liebevollen Porträtierung eines Einzelgängers mit treffender Gesellschaftskritik – und das macht richtig Spaß. Mehr braucht man nicht.
Bruno Duhamel: #Erstkontakt_ • Aus dem Französischen von Ulrike Rehberg • Avant-Verlag, Berlin 2024 • 72 Seiten • Hardcover • 22,00 Euro
Die Männer hinter dem Attentat auf Heydrich
Es war eine Gruppe an tschechoslowakischen Fallschirmjägern, die von der britischen Exilregierung beauftragt wurde, Reinhard Heydrich, den stellvertretenden NS-Reichsprotektor in Böhmen und Mähren, in einem beispiellosen Attentat zu töten. Die Männer waren mit ihren Fallschirmen in der Nähe von Prag gelandet und führte über Monate hinweg sämtliche Vorbereitungen durch.
Heydrich hatte sich im NS-Regime bereits zum Chef des Reichssicherheitshauptamtes und Hauptorganisator der Shoah hinaufgearbeitet. Ihm eilte der Ruf eines kompromisslosen Tyrannen voraus, als er im Frühherbst 1941 nach Prag versetzt wurde, um im Protektorat Böhmen und Mähren den verbliebenen Widerstand zu brechen. Seine brutale Vorgangsweise brachte ihm den Beinamen „Henker von Prag“ ein. Für seine Liquidierung wurde die Operation „Anthropoid“ ins Leben gerufen.
Eine Graphic Novel mit ebendiesem Codenamen als Titel holt nun die Mitglieder der Widerstandsgruppen auf die Bildfläche, deren lebensgefährlicher Einsatz dazu führte, dass Heydrich am 4. Juni 1942 an den Folgen des Schussattentats vom 27. Mai 1942 im Krankenhaus starb. Der Autor Zdeněk Lesák hat gemeinsam mit dem Illustrator Michal Kocián die Geschichte der Männer und des Attentats, angeführt von Jan Kubiš und Jozef Gabčík, mitreißend und minutiös aufgearbeitet, samt der grausamen Vergeltungsmaßnahmen, die dem Attentat, dem tschechischen D-Day, folgten.
Keiner der Attentäter überlebte den letzten Kampf in einer Kirche in Prag, in der sie sich versteckt hatten. Ihnen wie auch den anderen Protagonisten widmen die Autoren detaillierte Biografien am Ende des Buches. Die genaue Aufarbeitung zusammen mit der rasanten Gestaltung machen den Band zu einem fesselndes Zeitdokument.
Michal Kocián, Zdeněk Lesák: Anthropoid. Das Attentat auf Reinhard Heydrich • Aus dem Tschechischen von Ulrike Rehberg • Bahoe Books, Wien 2024 • 120 Seiten • Hardcover • 26,00 Euro
Aufgezeichnete Forschung
Bilder und Visualisierungen haben eine lange Tradition in der wissenschaftlichen Arbeit. Wie die Comicform den Blick auf verschiedenste Forschungsfelder schärfen kann, zeigt der Band „Was wissen wir schon“, der in einer Zusammenarbeit von 21 Forschenden der Akademie der Wissenschaften in Hamburg und elf Comicschaffenden entstanden ist.
Auf jeweils einer Seite laden Zeichnungen dazu ein, abzutauchen in die Philosophie der Quantengravitation, in Gehirnforschung oder das Problem der Polarisierung in sozialen Medien. Eingeteilt wird in drei Blöcke: Naturwissenschaften, Sozial- und Geisteswissenschaften sowie Rechts- und Geschichtswissenschaften wird gleich viel Platz eingeräumt.
Die auf einer Seite komprimierten Comic-Aufarbeitungen konkreter Fragestellungen erinnern mitunter an das in der Wissenschaft geläufige Posterformat. Das wirkt manchmal etwas brav, macht sich aber meistens auf originelle Weise die Vorteile der Comic-Gestaltung zunutze: nämlich flexibel verschiedene Zeit- und Erzählebenen quasi auf einen Blick zugänglich zu machen. So divers die Themen, so viele stilistische Zugänge gibt es. Die beigefügten Erklärtexte wären da oft gar nicht nötig.
Akademie der Wissenschaften in Hamburg (Hrsg.): Was wissen wir schon • Jaja Verlag, Berlin 2024 • 56 Seiten • Hardcover • 22,00 Euro
Diese Kritik erschien zuerst am 16.11.2024 in: Der Standard – Comicblog Pictotop.
Karin Krichmayr arbeitet als Wissenschaftsredakteurin für Der Standard. Außerdem betreibt sie für die österreichische Tageszeitung den Comicblog Pictotop.