Bis zur Schatzinsel und noch viel weiter – „Long John Silver“

Guyanacapac. Legendäre, sagenumwobene Goldstadt des Kaisers Viracocha. Irgendwo verborgen und vergessen im Amazonas-Urwald soll sie liegen. Schon vor Jahrhunderten suchten die spanischen Konquistadoren vergeblich nach ihr. Mit einer Expedition, die spurlos verschwand. Und nun, im Jahre 1785, soll Lord Byron Hastings sie gefunden haben. So jedenfalls wird es Lady Vivian Hastings von ihrem Schwager berichtet. Dabei hat Lady Vivian doch andere Sorgen: Drei Jahre ist ihr Mann Byron schon fort, ohne jegliche Nachricht. Sie hält ihn für tot oder wünscht es zumindest. Denn langsam aber stetig wird das Geld der blaublütigen Dame knapp. Und: sie ist schwanger von Unbekannt. Gerade will sie sich dem reichen Prisham an den Hals werfen (und ihm das Kind unterjubeln), da steht ihr Schwager vor der Tür samt Indio Moc und verkündet im Namen ihres Gatten den Verkauf des Herrenhauses und des gesamten Besitzes, um mit dem Geld ein Schiff zu erwerben, das ihn zurückholen soll. Und mit ihm die Schätze, das Gold, das Guyanacapac zuhauf birgt. Und Vivian? Die soll fortan im Kloster ihr Dasein fristen.

Doch Lady Hastings, eine rechte Lebedame, die von den gestrengen Sitten der damaligen Zeit wenig hält und zudem windig wie raffiniert ist, findet einen anderen Weg. Und natürlich will sie auch ihren Teil des Goldes abbekommen. Sie will mit auf die gefährliche Reise. Daher wendet sie sich über den Arzt Dr. Livesay (der Schatzinsel-Veteran) an einen zwielichtigen, berüchtigten alten Seemann, um den sich zahlreiche Piratenlegenden ranken: John Silver, genannt Long John. Silver, von der verheißungsvollen Gold-Geschichte berauscht und überzeugt, schließt einen Pakt mit Vivian, kümmert sich heimlich um ein Schiff, die Neptune, und heuert auf ihr gemeinsam mit einer kleinen Truppe von Halsabschneidern an. Jederzeit bereit, das Kommando über das Schiff zu übernehmen, um Vivians vollstreckender Arm bei der Rache an ihrem Mann zu werden. Und natürlich um möglichst viel Gold einzusacken. Schon bald nach dem Ablegen der Neptune wird die Stimmung an Bord schlechter, bis offene Meuterei ausbricht. Dann, unverhofft und mit Mocs Hilfe, scheint man den Weg nach Guyanacapac gefunden zu haben. Die Fahrt flussaufwärts beginnt. Und mit ihr das Grauen…

Xavier Dorison (Text), Mathieu Lauffray (Zeichnungen):
„Long John Silver Gesamtausgabe“.
Carlsen, Hamburg 2017. 272 Seiten. 39,99 Euro

Nein, dies ist keine Fortsetzung der „Schatzinsel“. Das wäre vermessen wie unpassend (wenngleich es auch bereits diverse Pre- und Sequels in Wort und Bild gibt). Autor Xavier Dorison und Zeichner Mathieu Lauffray gehen die Materie gleich ganz anders an. Sie „borgen“ sich die Person des John Silver, den schillerndsten Charakter aus Stevensons Klassiker, und verknüpfen sie mit der Legende des sagenhaften Eldorados, wobei sie Motive aus Joseph Conrads „Heart of Darkness“ verwenden (noch besser bekannt als Coppola-Adaption „Apocalypse Now“), die am Ende in Lovecraft‘schen Schrecken münden. Eine wilde, unausgegorene Mischung also? Mitnichten. Anfangs erkennen wir durchaus gewollte Parallelen zur „Schatzinsel“, was den Einstieg in die Geschichte erleichtert. Zwar ist die Figur der Lady Vivian Hastings, die den ersten Teil dieser Gesamtausgabe bestimmt, neu, aber wir sehen doch einen John Silver, der – zwar um einige Jahre gealtert – wieder eine Spelunke betreibt. Einen Dr. Livesay, der sich erneut auf das Abenteuer einer Schiffsreise einlässt und vor allem ist das Ziel der Reise wieder ein Schatz. Einer, gegen den sich der auf besagter Insel wie Peanuts ausnimmt. Und wie auf der Hispaniola infiltrieren Silver und seine Haudegen die Mannschaft der Neptune, jedoch mit Wissen und Segen von Livesay und Lady Hastings.

Was zuerst folgt, sind Zutaten, die man in einem anständigen Piratenabenteuer erwartet: ein tyrannischer, unbarmherziger Kapitän, der einen unschuldigen Jungen auspeitschen lässt, Anfeindungen zwischen Offizieren und Mannschaft. Die Stimmung an Bord wird immer bedrohlicher und unheilvoller und mündet schließlich in die unausweichliche Meuterei, angestachelt und organisiert natürlich vom charismatischen John Silver, vollzogen während eines sinnbildlichen, heftigen Sturmes. Und dazwischen die resolute schwangere Lady Hastings. Beide, sie und Silver, sind Geschwister im Geiste. Ebenso verschlagen und opportunistisch recken sie ihren Hals in den Wind, von einem unbändigen Überlebenswillen geprägt und doch gesteuert von der Gier nach dem Gold. Er nimmt Kollateralschäden unter seinen Leuten gewissenlos in Kauf, und sie lässt sich durch die Schwangerschaft nicht von ihrem Vorhaben abbringen, auch wenn sie, um Respekt zu gewinnen, einen von Silvers Kumpanen unter den Tisch saufen muss.

Die Geschichte, die von einem Erzähler im Nachhinein berichtet wird (bald wird klar, dass es Livesay sein muss, der auch schon in der „Schatzinsel“ als Ich-Erzähler aushalf), nimmt spätestens im abschließenden Teil endgültig eine ganz neue, gewagte Wendung, die durchaus überrascht und daher nicht unbedingt jedem Leser gefallen wird: Das Seeräuber-Abenteuer, so rau und spektakulär es auch war, wird gegen ein apokalyptisches Szenario eingetauscht, sobald man am Amazonas angekommen ist und flussaufwärts segelt. Fantasy-Elemente halten Einzug. Und man erkennt, dass das spektakuläre Drama um die Meuterei nur ein laues Lüftchen, ein Vorgeplänkel war, verglichen mit dem, was nun kommt: eine Fahrt in Terra Incognita, ins Herz der Finsternis. Dabei gestaltet Lauffray (der zuletzt mit seiner Valerian-Version überzeugte) zuerst den Urwald und dann die Tempelruinen überlebensgroß und gewaltig, geradezu einschüchternd, was bei Silver und seinen Mannen jedoch nur Trotz auslöst.

Wort- und bildgewaltig kommt die Geschichte daher. Lauffray bettet wichtige Passagen und Entdeckungen in teils doppelseitigen Panoramen, majestätische Bilder im Großformat, daneben rohe, unbehauene Panels, die von grobschlächtigen Piraten und einem charismatischen Long John Silver ausgefüllt werden, einem Schurken mit Ehrenkodex (was seinen Pakt mit Lady Vivian und seine „Freundschaft“ mit Dr. Livesay betrifft), dessen Denken aber immer fatalistischer wird. Die Frage, wie der Indio Moc offenbar alleine und mit der Schatzkarte bewaffnet vom Amazonas nach England kam, bleibt dabei jedoch ungeklärt… Carlsen fasst in dieser Gesamtausgabe alle vier Alben der Serie zusammen, die zwischen 2009 und 2013 erschienen. Als Bonus gibt es etliche Entwürfe, Skizzen und Covers von Mathieu Lauffray, die eindrucksvoll zeigen, dass er vom Kohlestift bis zum Computer sämtliche Zeichentechniken beherrscht. Eine Serien-Hommage von verschiedenen Zeichnern (darunter Denis Bajram, Ralph Meyer, Enrico Marini und Matthieu Bonhomme) beschließt den prächtigen Band.

Dieser Text erschien zuerst auf: Comicleser.de

Bernd Weigand ist schon über vier Jahrzehnte in Sachen Comics unterwegs: lesen, sammeln, übersetzen. Schreibt auch seit 20 Jahren über Comics, seit 2010 auf comicleser.de.