Der Säugling Gabriel Marpa überlebt nur knapp seine Notgeburt nach dem tödlichen, fremdenfeindlichen Übergriff auf seine Tibet bereisenden Eltern. Er wächst als Sohn eines einheimischen Paares auf, das bei der gleichen Tragödie sein eigenes Kind verlor. Trotz seines fremdartigen, hellhäutigen Äußeren und seiner schneeweißen Haare erlernt Gabriel von Kindesbeinen an die Sitten und Gebräuche der buddhistischen Dorfbewohner.
Nachdem sein Ziehvater Kuten bei einer Hetzjagd auf den mysteriösen Schneemenschen tödlich verletzt wird, geht der gesamte Familienbesitz dem törichten Wunsch des verstorbenen Familienoberhauptes entsprechend auf dessen selbstsüchtigen und kaltherzigen Bruder Kesang über. Dieser missbraucht seine neu erlangte Macht nicht nur, um Kutens Witwe und ihre jüngere Schwester zu enteignen und zu versklaven, sondern verbannt den kleinen Gabriel auch in das nahegelegene Kloster.
Nach einem lebensbedrohlichen, tagelangen Aufnahmeritual erwarten den zerschundenen Jungen nichts als Korruption, Gewalt und Habgier unter der Herrschaft des selbstsüchtigen Migmar. Doch schon bald zeichnet sich ab, dass Gabriel über besondere Kräfte verfügt. Er ist ein Tulku, eine menschliche Hülle, die der Behausung eines reinkarnierten Geistes dient. Dieser Geist gehörte einst einem mächtigen Lama und soll nun in einem neuen, jungen Körper wachsen um die nächst höhere Daseinsform zu erreichen…
„Der weiße Lama“ ist trotz seiner mystischen und surrealen Elemente eines der deutlich realitätsbezogeneren Szenarios des genialen, aber oft auch verstörenden Filmemachers und Autoren Alejandro Jodorowsky. Die eigenwillige Mischung aus kulturellem, symbolträchtigem Religionsporträt, mystischem Drama und überdrehter Eastern-Action meistert mit Bravour einen äußerst riskanten Drahtseilakt. Künstlerischen Anspruch und hochkulturelle Inhalte mit einer fesselnden Erzählung zu verflechten ist nämlich die Königsdisziplin jeder narrativen Kunstform.
Mit deutlich reiferer, ausgefeilterer Erzählstruktur als noch im surrealen „Alef-Thau“, aber auch mit mehr Seriösität und Stil als in seinem anarchischen „Showman Killer“ hat scheinbar auch Jodorowsky selbst mit dem weißen Lama seine Mitte gefunden, die perfekte Ausgewogenheit seiner kreativen Dämonen. Die detaillierten, realistischen, aber in den richtigen Momenten immer genug kreativen Mut beweisenden Zeichnungen von Jodorowskys langjährigem Weggefährten Georges Bess verleihen dem „Weißen Lama“ insbesondere durch die kräftige, extrem stimmungsvolle Kolorierung viel Charakter und Eigenständigkeit.
Die wie von Splitter nicht anders gewohnt beeindruckend verarbeitete Gesamtausgabe beinhaltet alle sechs ursprünglich im Feest-Verlag erschienenen Originalalben, die zur Feier des Anlasses neu und handwerklich einwandfrei gelettert wurden. Beim dem Umfang und der Verarbeitung zwar nicht unangemessenen, aber dennoch stolzen Verkaufspreis hätte grundsätzlich auch gern noch ein redaktioneller Teil das Mammutwerk krönen dürfen. Vermutlich hätte man sich als Leser dann jedoch selbst in einem tibetanischen Kloster trainieren lassen müssen, um das gewaltige Buch überhaupt noch heben zu können.
Ab Januar 2016 veröffentlicht Splitter dann die deutsche Übersetzung des zweiten „Der weiße Lama“-Zyklus.
Alejandro Jodorowsky, Georges Bess: Der weiße Lama. Splitter, Bielefeld 2015. 296 Seiten, € 49,80