Viele von uns waren dem Irrglauben erlegen, gleichgeschlechtliche Partnerschaften seien in der Mitte unserer Gesellschaft angekommen. Die geteilten Reaktionen und das nicht in Mehrheit geltende, aber punktuell vorhandene Verständnis für die Abscheu der Attentäter von Orlando offenbaren, dass viele Menschen Homosexualität auch heute noch als unnormal empfinden. Einer repräsentativen Umfrage zu Folge empfinden es verstörende 40% der Deutschen als ekelhaft, wenn Schwule oder Lesben sich öffentlich küssen. Trotz all dieses Hasses ist es eine große Freude zu beobachten, wie Themen, Charaktere und Geschichten, die vom traditionellen Verständnis von Beziehung und Sexualität abweichen, Einzug in unsere Popkultur und somit auch in unsere Wohnzimmer halten. Wie so häufig im modernen Erzählhandwerk dient das Medium Comic dabei als Wegbereiter.
Nicht umsonst wurde das in Deutschland bei Reprodukt erschienene „Ein Sommer am See“ von Mariko und Jillian Tamaki international mit zahllosen Preisen überhäuft. Die leichtfüßige und herzerwärmende Coming-of-Age-Liebesgeschichte zwischen zwei heranwachsenden Mädchen ist ein exemplarisches Beispiel für eine neue, romantische und emotionale Generation von Comics über die Liebe. Zwischen wem diese wächst, spielt dabei längst keine Rolle mehr. Was stattdessen zählt, sind nachvollziehbare, große Gefühle die auch dann Brücken schlagen können, wenn die sexuelle Orientierung des Lesers eine ganz andere ist.
Diese Theorie bestätigt sich durch ein aus dem japanischen Manga stammendes Sub-Genre, den sogenannten „Boys Love“-Stories. In diesen häufig romantisierten, schwulen Romanzen wird gern mit verstaubten Macho-Klischees gebrochen, um zwei junge Herren im Zuge mal derber, mal aber auch ganz zarter und unschuldiger Abenteuer zueinander zu führen. Interessanterweise sind die Hauptzielgruppe dieser Geschichten offenbar junge Mädchen, vielleicht auf der Suche nach einem alternativen Herren-Konzept zum in freier Wildbahn dieser Tage häufig anzutreffenden Pseudo-Gangster-Rüpel.
Bei Tokyopop erscheinen momentan gleich zwei erfolgreiche deutsche „Boys Love“-Produktionen, deren Künstlerinnen ebenfalls Damen sind. Mikiko Ponczeks mit dem „Max & Moritz“-Preis ausgezeichnetes „Crash’n Burn“ bedient dabei die etwas härtere, rebellische Gangart und sorgte gar mit Penis-Darstellungen bei Gala-Moderatorin Hella von Sinnen für Schnappatmung. Anna „Holzesserin“ Backhausens und Sophie „Salamandra“ Schönhammers verträumte „Sternensammler“ setzen dagegen auf unschuldig aufkeimende Romantik und nur ganz subtil angedeutete Erotik. Selten konnte man die Herren der Schöpfung derart vielfältig bei der Comic-Balz beobachten und sich vielleicht dabei sogar eigener Vorurteile entledigen.
Während in der Vergangenheit Homosexualität im Comic vor allem über wichtige Szenenstudien und selbstironische Überzeichnung dargestellt wurde und uns hoffentlich noch viele Werke des großartigen Ralf König ins Haus stehen, ist es offenbar auch an der Zeit, sich abgesehen von (sub)kulturellen Unterschieden auch auch auf die Gemeinsamkeiten zu konzentrieren, einander zu zeigen und zu erklären, warum keine Liebe weniger wert als die andere ist.
Auch im bei Splitter erschienenen „Blau ist eine warme Farbe“ von Julie Maroh steht diese Message neben dem oft angsteinflößenden und verwirrenden Coming-Out-Prozess junger Homosexueller klar im Vordergrund. Trotz zahlloser Begeisterungsstürme von Kritik und Publikum konnte die Realverfilmung von 2013 die emotionale Wucht der gefeierten Graphic Novel aber nicht transportieren. Vielleicht auch deshalb, weil man auf deutlich mehr (profitable) erotische Sensation Wert legte als in der feinfühligen Vorlage.
Wenn wir einen Blick auf die allgemeine Comic-Landschaft wagen, auf all die Superhelden und Scifi- oder Fantasy-Welten, treffen wir auch hier immer häufiger auf gleichgeschlechtliche Figuren, deren Homosexualität kein Selbstzweck ist, sie nicht definiert. Etwa Duncan Locke aus dem bei Panini erschienenen Horror-Epos „Locke & Key“, der in erster Linie über das Verhältnis zu seiner Nichte und seinen Neffen definiert wird, nicht zu seinem Partner. Oder nehmen wir einmal das schwule, intergalaktische Reporter-Paar aus der bei Cross Cult erscheinenden Ausnahme-Serie „Saga“: Hier wagt der gefeierte Brian Vaughan es sogar, zwei nur bedingt sympathische, eigennützige und verschlagene Alien-Herren in sein Epos zu integrieren, deren Liebschaft nicht mit ihren charakterlichen Defiziten zusammenhängend konstruiert wird. Die beiden sind ganz einfach klassische Aasgeier von der Klatschpresse. Und schwul.
Daher scheint die ewige Internet-Diskussion über homosexuelle Superhelden beinahe überflüssig. Es muss keine homophoben Gründe haben, wenn man sein Leben lang die Abenteuer von Figuren wie „Green Lantern“ oder „Wolverine“ begleitet hat und die Veränderung an der Figur nicht nachvollziehen kann oder mag. Engstirnig und konservativ mag das vielleicht sein, gerade in einem fiktiven Universum, das durch seine zahllosen Parallelversionen lebt und atmet. Neue, originär homosexuelle Charaktere, die ihren Platz in der ersten Reihe zwischen all den Batmans, Black Widows, Supergirls und Iron Mans dieser Weilt einnehmen dürfen, würden vielleicht einen echten Unterschied machen. Genug Inspiration für deren glaubwürdige Umsetzung hat die Comic-Welt längst zu bieten.