Eine Emanzipationsgeschichte

Elena Ferrante beschreibt in ihrer Romantrilogie „Meine geniale Freundin“ zwei ungleiche Freundinnen, die aus ihrem armen neapolitanischen Stadtviertel ausbrechen wollen. Nun ist eine Comic-Adaption erschienen.

Ein weit aufgerissenes Auge, wässrigblau mit fein ziselierten Farbverläufen. Eigentlich ist nicht viel mehr als der Augapfel zu sehen. Und doch ist klar, dass Angst in diesem Auge liegt. „Plötzlich ging das Treppenlicht an“ heißt es im Text darunter, und die Künstlerin Mara Cerri zeigt die beiden Freundinnen Lila und Elena, wie sie mit eingezogenen Köpfen im unwirtlichen Treppenhaus stehen. Mara Cerri hat den gesamten Comic mit Acrylfarbe, Ölpastel und Kohle gemalt. Manchmal sieht man die Struktur der dick aufgetragenen Farbe.

Der Roman wurde in Malerei übersetzt. Und: Der Comic „Meine geniale Freundin“ ist vor allem Reduktion. Die gut 400 Romanseiten hat die Dramatikerin und Szenaristin Chiara Lagani zu 250 Comicseiten destilliert, indem vor allem die Beziehung der beiden ungleichen Freundinnen gezeichnet wird. Lila mit all ihrer überschäumenden Energie und dem Zorn wirkt auf Elena faszinierend und abstoßend zugleich.

Bild aus „Meine geniale Freundin“ (Carlsen)

Eine rostige Sicherheitsnadel, mit der sich die Mädchen die Hände aufritzen. Lila, die viel intelligenter ist als Elena, wird die Schule ohne Abschluss verlassen und bei ihrem Vater in der Schusterei mitarbeiten müssen. Elena hat in der Schule deutlich mehr Unterstützung von ihren Eltern. Die Konflikte, die daraus entstehen, erzählt der Comic. Das Millieu im armen neapolitanischen Kiez, dass der Roman so plastisch beschreibt, wird im Comic nicht deutlich. Und damit auch nicht die sozialen Verwerfungen, die das mit sich bringt. Etwa beim Silvesterfeuerwerk. Mara Cerri zeichnet das Feuerwerk als Farbexplosion. Und dann gehen den Solaras die Raketen aus, und sie feuern mit Waffen und auf Menschen. Wie es zu diesem brutalen Umschwung kommen konnte, wird nicht nachvollziehbar. Trotzdem ist dieser Comic ungeheuer spannend – und das liegt an den großartigen Bildern von Mara Cerri.

Allein die Architektur erzeugt mit ihren schrägen Perpektiven so viel Spannung, dass es einem kalt den Rücken runterläuft. Manchmal scheint die Architektur selbst zu einem Protagonisten zu werden und bekommt Münder, die die Puppen der Mädchen verschlingen. Und der Tunnel am Ende des Viertels wird der Weg in eine neue Welt.

Die Comicadaption des Romans „Meine geniale Freundin“ konzentriert sich auf die Emanzipationsgeschichte der beiden Mädchen, die mit ganz unterschiedlichen Strategien und Voraussetzungen der Armut in ihrem Viertel entfliehen wollen. Und das macht sie gut, weil sie all die Verzweiflung und Hoffnungen und Abgründe zeigt, die diese Emanzipation mit sich bringt. Auch weil eine Alternative zu ihrem Leben so unvorstellbar ist, dass die Mädchen in ihrem Streben immer wieder haltlos wirken.

Dieser Beitrag erschien zuerst am 01.08.2023 auf: rbb Kultur

Elena Ferrante (Autorin), Chiara Lagani (Szenaristin), Mara Cerri (Zeichnerin): Die Neapolitanische Saga 1: Meine geniale Freundin • Aus dem Italienischen von Myriam Alfano • Carlsen, Hamburg 2023 • 256 Seiten • Hardcover • 26,00 Euro

Andrea Heinze arbeitet als Kulturjournalistin u. a. für kulturradio rbb, BR, SWR, Deutschlandfunk und MDR.