Plädoyer für die Menschlichkeit – „Das Herz der Amazonen“

Géraldine Bindi und Christian Rossi erzählen die Geschichte eines Matriarchats im Fahrwasser des Trojanischen Krieges.

Schon Jahre wütet der Krieg. Die Griechen belagern Troja und lassen nicht locker. Ihr großer Trumpf ist Achill, der mächtige Krieger, der als Halbgott verehrt wird. Was kaum jemand weiß: Praktisch nebenan, in einem unzugänglichen, großen Wald, lebt ein Amazonen-Stamm, der von der jungen Königin Penthesilea angeführt wird. Den Damen kommt der Krieg nicht gerade ungelegen, bietet er doch einen unerschöpflichen „Vorrat“ an Männern, die einmal im Jahr „benötigt“ werden, um den Fortbestand des Amazonenvolkes zu sichern. Dazu entführt man einige Griechen und feiert mit ihnen eine einwöchige Orgie, die verniedlichend „Blumenfest“ genannt wird. Danach werden die meisten der Männer „entsorgt“. Gleiches gilt übrigens auch für die Neugeborenen männlichen Geschlechts. Ein grausames Ritual, das auch immer unbeliebter wird. Nur Königin Penthesilea, genannt Penthe, findet seit Jahren keinen würdigen Partner. Als sie von dem Königssohn Achill und seinen Heldentaten hört, wird ihr schnell klar: Der muss es sein. Doch ein Angriff auf das Lager der Griechen wird zum Desaster. Penthe und ihre Kriegerinnen werden gefangen genommen und Achill selbst nimmt sich der Königin an…

Géraldine Bindi (Text), Christian Rossi (Zeichnungen): „Das Herz der Amazonen.
Aus dem Französischen von Harald Sachse. Splitter Verlag, Bielefeld 2018. 160 Seiten. 29,80 Euro

Auch wenn sie dort keine tragende Rolle spielten, werden in den Werken und Schriften über den Trojanischen Krieg immer wieder Amazonen erwähnt, natürlich auch bei Homer. So ist auch die Amazonenkönigin Penthesilea eine Figur aus der griechischen Mythologie. Dort soll Achill sie erschlagen haben, ehe er sich in ihr totes Antlitz verliebte. Die Autorin Géraldine Bindi orientiert sich bei ihrer Variation der Geschichte auch an dem gleichnamigen Drama von Heinrich von Kleist. Hier bleibt die Königin am Leben. Sie ist unglücklich, weil unbefriedigt. Als jemand, der gewohnt ist, sich zu nehmen, was er will, hat sie den großen Krieger Achill als standesgemäßen Erzeuger ihres Nachwuchses auserkoren. Ihre Begegnung verläuft dann denkbar ungünstig, zumal tatsächlich Gefühle ins Spiel kommen. Was bekanntlich bei den stolzen Amazonen-Kriegerinnen nicht sein darf. Als sie dann – ausgerechnet die Königin! – einen Jungen zur Welt bringt, stellt sie sich gegen das Gesetz, das angeblich zum Wohle der Göttin Artemis dient, und das sie bei anderen Müttern bisher stets durchsetzte: Penthe weigert sich ihren Sohn töten zu lassen und löst damit unter ihrem Amazonenvolk eine heftige Kontroverse aus.

Die Geschichte bewegt sich stets im Fahrwasser des Trojanischen Krieges samt seiner mythologischen Figuren, bei dessen Verlauf es immer wieder Berührungspunkte mit den Amazonen gibt. Kassandra, Seherin und die Tochter des Priamos, macht eine Weissagung, Cheiron der Zentaur spielt eine gewisse Rolle, Achill kämpft und siegt gegen Hektor, und auch der tödliche Fersenpfeil wird in die Story eingebaut. Das hinlänglich bekannte trojanische Pferd wird dagegen ausgelassen, wir sehen lediglich die Ruinen des zerstörten Troja nach dem Ende des Krieges. Überhaupt teilen Bini und Rossi ihre lange Erzählung in mehrere Abschnitte ein. Zuerst wird das Blumenfest, dessen Ablauf, Sinn und Zweck ausführlich geschildert, wir lernen die Amazonenkriegerinnen und deren Charakter kennen. Dann rückt Penthe immer mehr in den Mittelpunkt des Geschehens, ebenso Achill. Am Ende droht die Amazonen-Gemeinschaft zu zerfallen und mit ihr die Regeln, deren Ursprung niemand mehr kennt. Das Matriarchat scheint zu scheitern, als man den vermeintlichen Schutz des Göttin Atremis verlässt und sich die Gefühle Bahn brechen.

Zeichner Christian Rossi (u. a. „W.E.S.T.“, „Jim Cutlass“), der zuletzt in dem Western „Deadline“ bereits seine Panels direkt kolorierte, variiert hier seinen wunderbar realistischen Stil, indem er auf Buntes verzichtet und monochrom arbeitet. Nicht schwarz-weiß, sondern mit Erdfarben, was bestens zum Geschehen passt und sich an antiken Darstellungen aus der griechischen Kunst orientiert. So kämpft man auf beiden Seiten der Geschlechter gerne nackt und edel, ohne dass die Darstellungen voyeuristisch ausarten und vielmehr immer geschmack- und stilvoll bleiben. Die Heimat der Amazonen ähnelt einem verwunschenen Märchenwald, was in opulente Panels gefasst bestens mit dem mythologischen Umfeld harmoniert. Mit dieser ansprechenden Optik im Großformat, verbunden mit einer fordernden, dramatischen Geschichte entsteht so ein eindrucksvolles Plädoyer für die Menschlichkeit.

Dieser Text erschien zuerst auf: Comicleser.de

Bernd Weigand ist schon über vier Jahrzehnte in Sachen Comics unterwegs: lesen, sammeln, übersetzen. Schreibt auch seit 20 Jahren über Comics, seit 2010 auf comicleser.de.