Die Welt ist im Arsch, das dämmert langsam auch den naivsten Optimisten. Das mag ein Grund sein, warum die Probleme der Menschheit auf Leinwand und im Comic an alte Götter in neuen Spandexanzügen delegiert werden. Zu jeder Tages- und Nachtzeit ist ein Drittel der Top-100-Comic-Charts-Plätze auf Amazon von Superhelden besetzt, und erst vor wenigen Wochen wurde „Avengers: Endgame“ zum erfolgreichsten Film der Kinogeschichte gekürt. Was die Menschen so verheerend an ihr Elend bindet, ihre Zurichtung als Arbeitnehmer, machte jedoch schon in den Siebzigern selbst die Götter ratlos, als soziale und gesellschaftskritische Komponenten den Superhelden-Comic-Books einen neuen Choke verabreichten.
Im hiesigen Graphic-Novel-Segment, vornehmlich Domäne für auratische Kunst und reale Probleme, könnte sich gerade ein kleiner Trend zur Arbeit abzeichnen. Im kürzlich erschienenen Comic „Von unten“ (Avant-Verlag) schildert die junge Künstlerin Daria Bogdanska mit nüchterner Präzision ihren Überlebenskampf als polnische Migrantin im schwedischen Malmö. Autobiographische Elemente finden sich auch in Frank Schmolkes jüngst veröffentlichter Graphic Novel „Nachts im Paradies“. Der 52jährige Illustrator und Comiczeichner setzt uns auf die Rückbank eines Taxis und zeigt München bei Nacht während der Hochphase des Oktoberfestes. Schmolke selbst arbeitete in München seit seinen Dreißigern viele Jahre als Taxifahrer, den Skizzenblock meist im Gepäck; viele bizarre Begegnungen aus dieser Zeit landeten im Comic.
Die mürrische Hauptfigur Vincent erledigt den Job gelassen. Eigentlich will er als Schriftsteller reüssieren, aber auf dem Blatt in der Schreibmaschine findet sich nicht ein Wort – ein einsamer Wolf, aber ohne die psychopathischen Anteile von Scorseses Kreuzritter Travis Bickle. Statt dessen fängt er sich schon mal ein blaues Auge ein, wenn die besoffenen Fahrgäste sein Taxi vollkotzen.Man wird nicht als philanthropische Frohnatur aus der Story entlassen. Seinen Figuren begegnet Schmolke mit solider Menschlichkeit, ihr Antagonist aber ist praktisch die gesamte Welt. Die Arbeitsbedingungen sind miserabel, der Status der Fahrer ist prekär. Da spielt die Konkurrenz durch den Uber-Fahrdienst ebenso eine Rolle wie der großstädtische Mietwahnsinn: Vincent muss bald aus seiner angestammten Altbauwohnung ausziehen, weil er sie sich nach einer drohenden Sanierung nicht mehr leisten können wird. Vom Umsatz einer Nachtschicht gehen 55 bis 60 Prozent an das Unternehmen, da bleibt nicht viel hängen. Vincent bugsiert seine Fahrgäste durch Viertel, die er selbst niemals bewohnen wird.
Unter diesen Bedingungen garantiert das Oktoberfest zumindest volle Auslastung. Und es verlangt höchste Nehmerqualitäten. Die Verzahnung aus Ignoranz und Privileg, mit der man sich als Fahrer konfrontiert sieht, tritt schon in der ersten Szene zutage. Da rast Vincent auf Druck zweier Geschäftsmänner zum Flughafen und wird von der Polizei angehalten. Bilanz: ein Punkt und 150 Euro Strafe. Einnahmen: 72,90. Der großmäulige Fahrgast reicht mit jovialer Geste zwei Euro Trinkgeld rüber.
Schlimmer sind nur noch die Wiesn-Gäste: Wie Zombiehorden schlurfen sie vom Areal, grunzende Laute ausstoßend, erkämpfen sie sich Fahrplätze, ununterscheidbar, ob es sie nach mehr Bier oder Menschenfleisch dürstet – ein postapokalyptisches Survivalszenario mitten im urbanen Raum. Aber hinter dem grotesken Witz dieser Bilder steckt auch eine soziologische Komponente, denn sie wanken zurück in eine kapitalistische Kultur, die außer Selbstzerstörung, Exzess und Ausbeutung nicht mehr viel zu bieten hat.
Am deutlichsten arbeitet Schmolke dies anhand der Frauenfiguren heraus. Keine von ihnen bleibt von Gewalterfahrungen verschont. Da ist die delirierende Oktoberfest-Besucherin, die aus Vincents Taxi stürzt, sich mit herausgerutschter Brust regendurchnässt an eine Wand lehnt und im nächsten Panel von zwei Männern wie ein Stück Beute bedroht wird. Da gibt es eine andere volltrunkene Besucherin, die von ihrem schmierigen Trachtenträger auf der Rückbank so lange zum Oralsex genötigt wird, bis sie sich im Wagen erbricht. Da ist Vincents 16jährige Tochter Anna, die den getrennt lebenden Vater besucht und sich bereits in der Straßenbahn zweier Typen erwehren muss. Später, nach einer K.-o.-Tropfen-Attacke, wird sie von einer Gruppe Gleichaltriger durch die Stadt gejagt, die sie vergewaltigen wollen. Und dann gibt es noch die Edelprostituierte Valerie, spezialisiert auf deviante Praktiken. Ihr Zuhälter Igor will Vincent als festen Fahrer gewinnen. Vincent verkennt den Ernst der Lage und lässt sich ein auf dieses Spiel, das keines ist. Nach einem gewalttätig entgleisten Besuch bei einem Freier bekommt er, später in Valeries Wohnung, kaum mehr als ein „Wollen wir ficken?“ über die Lippen.
Die letzten beiden Handlungsstränge machen Vincent zu einer Art gebrochenem Noir-Charakter, getragen von der Melancholie eines Dominik-Graf-Thrillers. Nur hoffnungsloser. Die expressive Schwarzweißgrafik wirkt so rüde, als wäre die Tuschefeder mit dem Ruß und den Abgasen aus Münchens Straßen getränkt worden. Gegen Ende sitzen Vincents Kollegen bei einer kleinen „Free Munich“-Veranstaltung, die Assoziationen zu Hitlers Hofbräukeller sind unübersehbar. Wie gesagt, hier bekommt niemand ein gutes Attest ausgestellt.
Hier findet sich ein Interview mit Frank Schmolke.
Sven Jachmann ist Comic.de- und Splitter-Redakteur und Herausgeber des Filmmagazins filmgazette.de. Beiträge u. a. in KONKRET, Tagesspiegel, ND, Taz, TITANIC, Junge Welt, Jungle World, Das Viertel, Testcard sowie für zahlreiche Buch- und Comicpublikationen und DVD-Mediabooks.