Sportgeschichten handeln von der Härte des charakterbildenden Trainings, dem stetigen Kampf um den verdienten Respekt und dem überraschenden Sieg des sympathischen Underdogs. Der Schweizer Marc Locatelli verzichtet in „Die Nacht, in der ich Eddy Merckx bezwang“ auf all dies.
Locatelli erzählt in diesem Crowdfunding-Comic eine Episode aus seinem Leben als Radrennamateur. Am 10. Februar 1978 startete er im Zürcher Hallenstadion neben Sportgrößen wie dem Belgier Eddy Merckx, dem Deutschen Gregor Braun oder Didi Thurau, der dieses Rennen letztlich gewinnen sollte.
Der Tag beginnt für Locatelli mit unverhofften Widrigkeiten: Ein Polizist wundert sich über den unkonventionellen Straßenverkehrsteilnehmer, der ein zweites Rad auf der Schulter trägt. Die anschließende Polizeikontrolle verzögert Locatellis Weg ins Stadion, stoppen kann den Herzblutsportler allerdings nichts. Auch nicht Eddy Merckx, der die Toilette so lange besetzt, bis Locatelli wild gegen die Tür trommelt und Einlass verlangt.
Nach zwanzig Seiten kommt es zum Showdown – das Rennen startet, und es verläuft für Locatelli so schwer, wie er es zuvor erwartet hat. In diesem Profi-Feld wird er am Ende nicht gewinnen können, und darum geht es ihm auch nicht: Unter die ersten zehn Fahrer zu kommen, sei für ihn ein Erfolg, und wenn sich die Restaurantbedienung Sylvie mit einem erfolgreichen Abschneiden noch beeindrucken ließe, wären alle Hoffnungen Locatellis erfüllt. Pustekuchen. Nach einem knappen Endspurt gegen Eddy Merckx um Platz 8 klaffen Erinnerung und offizielle Sportberichterstattung auseinander. Während die Jury Merckx vorne sieht, erinnert Locatelli sich daran, eine Reifenbreite vor dem belgischen Radstar eingefahren zu sein, ganz wie der Stadionsprecher: „Hitchcock-Finale um den achten Platz. Ich sah Locatelli vor Merckx.“ Letztlich ist die Frage weder entscheidbar noch relevant, dieser Sport hat ganz andere Probleme zu klären. Es kommt noch schlimmer: Sylvie interessiert sich weiterhin nicht für Locatelli, und dieser wird sich fortan mit seiner ganzen Leidenschaft dem Zeichnen zuwenden.Es ist eine autobiografische Episode, die in ihrem Understatement fast schon als Parodie typischer Sportgeschichten daherkommt: Wir lesen keine Auf- noch Abstiegsgeschichte, die Figuren erfahren keine Bekehrung, keine Läuterung, keine Reifung. Es gibt keine Heldentaten und keine Schurken, der Held bekommt nicht einmal „das Mädchen“. Wir wohnen auch nicht dem spektakulären Großereignis der Tour de France bei wie in Christian Lax‘ nostalgischem Radcomic „Adler ohne Krallen“ (2012) und erleben nicht die Tragik, die Reinhard Kleist in seinen Sportlerbiografien „Der Boxer“ (2012), „Der Traum von Olympia“ (2015) oder – ganz aktuell – in „Knock Out!“ (2019) schildert. Man könnte sagen, Locatelli habe fast alle stereotypen Handlungselemente von Sportgeschichten erfolgreich unterwandert und eine konsequente Gegenerzählung geschrieben, in welcher der Held nichts zu verlieren hat und am Ende noch weniger gewinnt. Oder, dies wäre eine zweite Möglichkeit, Locatelli hat über seiner Begeisterung für das Thema schlichtweg vergessen, die Ereignisse zu einer Story zu formen.
Es ist der erste Lang-Comic des inzwischen 65-Jährigen, der als Illustrator tätig ist und bis auf den heutigen Tag seine Liebe für das Velo behalten hat: „Das Velofahren hat in letzter Zeit gelitten, aber das wird sich in den kommenden Wochen ändern“, sagt Locatelli kurz nach Abschluss des Projektes. Ihm sind in „Die Nacht, in der ich Eddy Merckx bezwang“ aber einige sehr schöne Szenen gelungen: Als er inmitten des Rennens das Gefühl bekommt, seine Beine würden explodieren, fährt Locatelli mit Dynamitstangen an den Oberschenkeln seine Runden, bis er durch das Stadiondach bricht und seine Runden im Zürcher Nachthimmel dreht.
Locatelli hat eine zurückhaltende „alternate history“ der Realsportgeschichte geschrieben – „das ist nur die eine Seite der Medaille“, verspricht Locatelli im Crowdfunding-Video. Die Pointe ist, dass diese Medaille eben keine zweite Seite, keinen moralischen Lehrsatz oder dergleichen hat. Vielleicht liegt darin die Stärke dieser Erzählung, sich als dezente Nebenhandlung abseits von TV-Events und nur im Schatten großer Stars zu inszenieren. Velophoben Lesern wird dieser Splitter der Sportgeschichte ein Achselzucken entlocken, für Freunde des Radsportgemeinde wird Locatelli eine Reifenbreite vorn sein.
Gerrit Lungershausen, geboren 1979 als Gerrit Lembke, hat in Kiel Literatur- und Medienwissenschaften studiert und wurde 2016 promoviert. Er hat Bücher über Walter Moers, Actionkino und den Deutschen Buchpreis herausgegeben. 2014 hat er zusammen mit anderen das e-Journal Closure gegründet und ist bis heute Mitherausgeber. Derzeit lebt er in Mainz und schreibt für Comicgate und die Comixene. An der TU Hamburg-Harburg unterrichtet er Comic-Forschung.