Die große Leere – „Sabrina“

Anomische Gesellschaft: Nick Drnasos medienkritisches Comicmeisterwerk „Sabrina“.

Am Comic, dem der Kulturbetrieb im Vergleich zu allen anderen Künsten allenfalls zögerlich Beachtung schenkt, lässt sich sehr schön studieren, dass Zuneigung und Ablehnung im öffentlichen Räsonieren immer dann eine dialektische Verbindung eingehen, wenn die gewohnten Sezierinstrumente auf etwas Fremdes treffen. So war Nick Drnasos Graphic Novel „Sabrina“ 2018 als erster Comic überhaupt für den britischen Booker Prize nominiert. Den gab es dann zwar nicht, aber die Pressemeldung war omnipräsent. Weshalb eine solche Sensation erst 2018 erfolgte bzw. was bei der Vergabe der weit mehr als tausend Literaturpreise hierzulande möglicherweise schiefläuft, wurde in keinem der Beiträge erörtert.

„Sabrina“ ist auch der erste Comic, über den das Literarische Quartett diskutierte, das war auf der diesjährigen Frankfurter Buchmesse. Sibylle Berg zeigte sich ehrlich angetan, der Rest verlor sich im ratlosen Lobpreisen; Christine Westermann bilanzierte ihre zuvor geäußerte Begeisterung anschließend so: „Es ist meine erste Graphic Novel, ich fürchte, es wird meine letzte sein.“

Nick Drnaso (Autor und Zeichner): „Sabrina“.
Blumenbar, Berlin 2019. 208 Seiten. 26 Euro

Dem 1989 geborenen, in Chicago lebenden Comickünstler Nick Drnaso ist mit seinem zweiten Werk ein politisches Meisterstück gelungenen. Auf den ersten zwölf Seiten sehen wir Sabrina: wie die junge Frau sich mit ihrer Schwester im Haus der verreisten Eltern trifft und die Katze versorgt, wie die Schwestern Anekdoten austauschen, sich über Alltagsangelegenheiten ärgern – bis Sabrina sich schlafen legt. Als sie am nächsten Morgen das Haus durch den Vorgarten verlässt, ist das ihr letzter Auftritt. Sie wird bestialisch ermordet, und die folgenden 190 Seiten rekonstruieren nicht etwa die Tat, sondern das katastrophale mediale Echo darauf.

Die Perspektiven wechseln zwischen Sabrinas Schwester Sandra, die vom Medienrummel am meisten abbekommt, Sabrinas Lebensgefährten Teddy, der sich depressiv in der Wohnung von Calvin verschanzt, einem alten Freund aus Schultagen. Calvin kümmert sich eher hilflos um Teddy, quält sich seinerseits mit einem Job als militärischer Überwachungstechniker herum. Eigentlich will er seit der Scheidung zu Exfrau und Tochter nach Florida ziehen, ignoriert freilich, dass er dort gar nicht erwünscht ist, das Ende seiner Karriere würde es außerdem bedeuten.

Alle drei Figuren eint, dass sie ihre Trauer und Traumata allein bewältigen. Die Gespräche ähneln eher einem Ringen darum, mit letzter Not ein Ich zu behaupten, das sich im Dröhnen medialer Diskurse zusehends zerstäubt. Bei der Arbeit wirkt Calvin in sich zurückgezogen, zu Hause am Rechner führt er seine Arbeit gewissermaßen, über Kopfhörer mit den Kollegen verbunden, mit Ballerspielen fort. Sandra versucht ihren Schmerz auf der offenen Bühne einer Bar rauszulassen, indem sie über die Hassmails spricht, die sie seit dem Mord bekommt; sie erntet verschämte Blicke und fühlt sich danach noch isolierter als vorher. Teddy blendet seine Umwelt nahezu vollkommen aus, allein die Radiosendung eines Preppers und Verschwörungstheoretikers, der Sabrinas Tod für ein fingiertes Ablenkungsmanöver der Regierung hält, spendet ihm bizarren Trost: Dieser Version zufolge könnte sie schließlich noch am Leben sein.

Seite aus „Sabrina“ (Blumenbar)

Weil der Täter, ein 23jähriger Nachbar ihrer Eltern, ein Video von Sabrinas Ermordung ins Netz stellte und es danach an Zeitungen und Fernsehsender schickte, ist die öffentliche Aufmerksamkeit riesig. Schnell häufen sich in den „sozialen Medien“ Spekulationen über den Wahrheitsgehalt des Verbrechens; die Hinterbliebenen müssen doppelt leiden, seit ihnen statt Empathie virtueller Hass und Misstrauen entgegenschlagen.

Irgendwann wird einem klar, dass die gesamte Ästhetik des Comics darauf ausgerichtet ist, eine anomische Gesellschaft abzubilden, in welcher der soziale Notstand sozusagen unbemerkt den Alltag dirigiert. Die reduktionistische Grafik, dominiert von ausgeblichenem Grau, Braun und Beige, erinnert ein wenig an Chris Ware, stärker allerdings an den Ligne-claire-Stil: Hergés puristische visuelle Programmatik einer Abenteuererzählung. Indes wird sie hier auf eine deformierte Welt bezogen, in der das einzige Abenteuer, sofern man es so nennen will, darin besteht, das Elend irgendwie zu ertragen. Die repetitive Anordnung der kleinen Panels, die manchmal von halbseitigen Bildern unterbrochen werden, auf denen die gebrochenen Gesichter der Figuren im Profil zu sehen sind, kontrastiert diese erzählerische Ordnung mit der ins Chaos driftenden Vorstellung von Menschlichkeit. Hintergründe sind mit wenigen Strichen angedeutet, in den Häusern wie auf den Straßen herrscht Einsamkeit. Leere allerorten.

Im letzten Drittel erhält Calvin E- Mails mit Morddrohungen eines ano­nymen Verschwörungstheoretikers. Sind sie real oder die Zermürbungstaktik eines skrupellosen Kollegen, der es auf Calvins Beförderung abgesehen hat? Aufgelöst wird es nicht. Paranoia lässt sich nicht mit Logik oder Empirie exorzieren. Drnasos Medienkritik besteht nicht zuletzt darin, zu zeigen, wie leicht Paranoia aus einer vergifteten Gesellschaft erwächst, wenn Technik und Öffentlichkeitsmaschinen die Werkzeuge reichen, Wahrheit zur Verhandlungssache zu degradieren.

Hier und hier gibt es weitere Kritiken zu „Sabrina“.

Sven Jachmann ist Comic.de- und Splitter-Redakteur und Herausgeber des Filmmagazins filmgazette.de. Beiträge u. a. in KONKRET, Tagesspiegel, ND, Taz, TITANIC, Junge Welt, Jungle World, Das Viertel, Testcard sowie für zahlreiche Buch- und Comicpublikationen und DVD-Mediabooks.

Sequenz aus „Sabrina“ (Blumenbar)