Rückkehr ins Licht – „Das Licht, das Schatten leert“

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Starke Bilder, preisgekrönt: Tina Brenneisen erzählt in ihrer für den Max-und-Moritz-Preis nominierten Graphic Novel vom Tod ihres Kindes und ihrem Umgang damit.

Die Krankenschwester schiebt einen kleinen Wagen durch den Gang der Klinik. Darauf liegt ein totes Baby, zugedeckt mit einem weißen Tuch. Als die Schwester den Fahrstuhl betritt, schubst ein erschrockener Vater mit einem Blumenstrauß in der Hand seinen Sohn wieder hinaus.

Dem Tod will hier, auf der Wochenbettstation, keiner begegnen. Die Schwester bringt das Kind zu den Eltern, die es empfangen und im Arm halten, als wäre es noch am Leben. Doch was aussieht wie eine liebevolle Begrüßung, ist eigentlich ein schmerzvoller Abschied.

Tini und Fritzemann, die kurz zuvor noch freudig für die Geburt ihres Sohnes in die Klinik gekommen waren, stehen vor einem Abgrund. Das Unfassbare anzunehmen, den Tod ihres Kindes zu verarbeiten und wieder Teil zu werden von der Welt, scheint unmöglich. „Niemand hat den Tod gern in seiner Nähe“, sagt die Ich-Erzählerin Tini. „Uns begleitet er von nun an jeden Tag.“

Sie sieht ihre Körper als Sarg, nicht als Vertrauten

In der autobiografischen Graphic Novel „Das Licht, das Schatten leert“ verarbeitet die Comiczeichnerin und Karikaturistin Tina Brenneisen („Bergstraße 68“, „Das gelbe Pony“) ihre Erfahrungen als verwaiste Mutter. Für ihr Exposé erhielt sie 2017 den Comicbuchpreis der Berthold-Leibinger-Stiftung, die höchstdotierte Auszeichnung für Comics in Deutschland.

Tina Brenneisen (Autorin und Zeichnerin): „Das Licht, das Schatten leert“.
Edition Moderne, Zürich 2019. 240 Seiten. 29 Euro

Das traumatische Erlebnis wird dem Leser nicht schonend nahegebracht. Gleich zu Beginn des Comics erscheint der Tod – und was für einer: ein totes Baby. Der Leser muss zusammen mit Tini und Fritzemann die Situation ertragen, als die Ärztin feststellt, dass ihr Kind gestorben ist. Er muss auch die Szenen im Entbindungssaal mitansehen, den Besuch der Bestatterin und die mangelnde Empathie von Tinis Eltern, die sich nicht dazu überwinden können, ihrer Tochter die Liebe zu geben, die sie jetzt braucht.

Statt Nähe und Anteilnahme erlebt der Leser auf allen Ebenen die Distanz, die den verwaisten Eltern, vor allem aber Tini als verwaister Mutter begegnet: Ihre Ärztin meldet sich wochenlang nicht, die Optionen zur Bestattung ihres Kindes sind unpersönlich und nur für Erwachsene gedacht. Tinis Familie redet nicht mit ihr, Bekannte und Nachbarn verharren in Sprachlosigkeit, wo doch gerade jetzt tröstende Worte gebraucht werden.

Tini sucht in der Bibliothek nach Stimmen, die ihre Erfahrung teilen, doch Berichte von Betroffenen über Totgeburten findet sie nicht. Das, was sie erlebt hat, scheint so furchtbar zu sein, dass die Gesellschaft (noch) keine Worte dafür hat. Tini fühlt sich isoliert und alleingelassen. Ihr Körper ist ihr fremd geworden. Sie sieht ihn als Sarg und nicht mehr als Vertrauten.

In zittrigen, skizzenhaften Bildern beschreibt Brenneisen, wie Tini und Fritzemann sich in der Wohnung wie angekettet fühlen, es kaum aus dem Haus schaffen. Ständig lauert ein schwarzes Loch im Boden, in das sie hineinfallen könnten. Mit kleinen Ritualen versuchen sie, ihren Schmerz zu verarbeiten.

Die räumlichen Perspektiven sind verschoben, der Verlust von jeglicher Sicherheit ist dadurch direkt erfahrbar. Geschönt wird dabei nichts. Die Körper der Protagonisten sind schief und unförmig, ihre Gesichter oft nur verzerrte Fratzen – in Tinis Worten: „Man ist nicht cool und sexy, wenn man dem Tod begegnet.“

Langsam kehren die Farben zurück

Seite aus „Das Licht, das Schatten leert“ (Edition Moderne)

Anhand einer geradlinigen Erzählstruktur aus größtenteils gleichmäßig gesetzten Panels begleitet der Leser Tinis Versuche, wieder Fuß zu fassen, unterbrochen von Rückschauen, Träumen und emotionalen Ausbrüchen, die grafische Begrenzungen aufbrechen und sich farblich von der Rahmenhandlung abheben.

Rot ist der Schmerz, auch Tinis Wut, während der dumpfe Trauer-Alltag in Beige und Grau gehalten ist. Bunt und leicht setzen sich zunächst ihre Fantasien vom Leben mit dem kleinen Lasse ab, doch im Lauf der Zeit kommt auch zunehmend Farbe in die Bilder vom realen Leben: Tini fängt wieder an zu arbeiten und macht einen Yoga-Kurs, Freunde und Ereignisse aus dem Umfeld kehren in ihr Blickfeld zurück.

Die feinen, gekritzelten Linien spiegeln die Unsicherheit wieder, mit der sich das Paar durch die Zeit nach dem Trauma bewegt, aber auch die Leichtigkeit, nach der sie beide stets suchen und mit der sie es schaffen, trotz allem auch lachen können – zunächst noch bitter, dann immer freier – und sich gegenseitig neue Kraft zu geben. So ist „Das Licht, das Schatten leert“ auch die zärtlich erzählte Geschichte von zwei Menschen, die zusammenhalten und den anderen nie aus dem Blick verlieren.

Auch deshalb ist diese Graphic Novel so bemerkenswert: Die verhuschte Skizzenhaftigkeit der Bilder erhält Substanz durch einen starken Text. Tini ist analytisch, aber nicht kalt. Intelligent, selbstreflektiert und selbstironisch schafft sie es dadurch, trotz der Traurigkeit und Schwere nach dem Licht zu suchen und sich ihren Lebenswillen zu erhalten. Ein schönes Detail: Der Titel-Schriftzug von „Das Licht, das Schatten leert“ leuchtet im Dunkeln.

Diese Kritik erschien zuerst am 15.12.2019 in: Der Tagesspiegel

Hier gibt es eine weitere Kritik.

Rilana Kubassa, geb. 1980, ist Literatur- und Medienwissenschaftlerin und lebt als Journalistin, Autorin und freie Lektorin in Berlin. Ihre Texte über Comics erscheinen auch im Tagesspiegel und bei Closure.

Seite aus „Das Licht, das Schatten leert“ (Edition Moderne)