Kreative „Retro“-Kunst

Woyzeck als Klassiker des Messermordes? Warum nicht? In einer Zeit, in der scheußliche Morde eine Art Leitmotiv waren? Es wundert einen nicht sehr. „Weimar“ hängt mehr oder weniger in der Luft. Bauhaus, Berlin Babylon, Vicki Baum, Lili Grün, „M“ und ungezählte andere Narrative, Renaissancen, wohin man blickt. Natürlich waren die 1920er und 1930er (plus/minus) Jahre eine Art Turbokraftwerk der Moderne, das man sich jederzeit noch einmal genauer anschauen sollte, aber genauso hat dieses Interesse, wie vermittelt auch immer, mit dem Aufstieg der Rechten und der Nationalismen zu tun, die einen Hauch von „Weimar“ spüren und fürchten lassen, und sei’s subkutan. Georg Büchners „Woyzeck“-Fragment von 1836 wiederum war ein Lieblingsparadigma jener Jahre, Alban Bergs „Wozzeck“ hatte daran einen gewaltigen Anteil und auf den Theaterbühnen gab es „Woyzeck“-Aufführungen in Hülle und Fülle. Der berühmte Abgrund („Jeder Mensch ist ein Abgrund, es schwindelt einem, wenn man hinabsieht“) passte perfekt zum Zeitgeist, ebenso wie die bei Büchner angerissenen Themenfelder: Mord, Wahnsinn, Depravation, Klassengegensätze.

Andreas Eikenroth: „Woyzeck. Eine grafische Inszenierung nach den Fragmenten von Georg Büchner“.
Edition 52, Wuppertal 2019. 64 Seiten. 15 Euro

Es ist also nur logisch, wenn der in Gießen („Woyzek“-Land) lebende Comic-Künstler Andreas Eikenroth (einer der eher stillen Großen) seine „Woyzeck“-Adaption „Woyzeck. Eine grafische Inszenierung“ nach den Fragmenten von Georg Büchner (Edition 52) bildästhetisch an die 1920er Jahre anlehnt, ganz offen und zitierend: Georg Grosz, Jeanne Mammen, Egon Schiele etc. Durch die knallbunte, sehr heutige Kolorierung entsteht nicht nur eine aufregende innere Spannung auf der Bildebene, sie dient auch als Vektor ins Aktuelle, sagen wir: in unsere eigenen Abgründe der Inhumanität und Skrupellosigkeit, heuchlerischer Moralvorstellungen, Verzweiflung und ökonomischer Verwerfungen. Und, nicht zu unterschätzen: Die fröhlich-giftigen Farben torpedieren eine bestimmte Lesart, eine bestimmte Interpretation der Vorlage.

Ebenfalls grandios und ästhetisch völlig überzeugend ist Eikenroths Idee, die nur schwach konsistente Fragment-Struktur von Büchners unvollendetem Text nicht in nacherzählende Einzelpanels aufzulösen, sondern in ganzseitige Zeichnungen mit ineinanderfließenden Zeitebenen. So funktioniert jedes der großflächigen Bilder als narrativer Schritt der Handlung und gleichzeitig als autonomes Kunstwerk. Eigentlich bin ich kein großer Freund von „Retro“-Kunst, weil sie meist verzweifelt und erfolglos den Originalen hinterherhechelt. Aber so kreativ wie Eikenroth seine Adaption anlegt, so kann man das machen.

Hier gibt es ein Interview mit Andreas Eikenroth.

Diese Kritik erschien zuerst am 01.07.2019 auf: CulturMag

Thomas Wörtche, geboren 1954. Kritiker, Publizist, Literaturwissenschaftler. Beschäftigt sich für Print, Online und Radio mit Büchern, Bildern und Musik, schwerpunktmäßig mit internationaler crime fiction in allen medialen Formen, und mit Literatur aus Lateinamerika, Asien, Afrika und Australien/Ozeanien. Mitglied der Jury des „Weltempfängers“ und anderer Jurys. Er gibt zurzeit das Online-Feuilleton CULTURMAG/CrimeMag und ein eigenes Krimi-Programm bei Suhrkamp heraus. Lebt und arbeitet in Berlin.

Seite aus „Woyzeck“ (Edition 52)