Die Diaspora in Superman

Was ist eine Pessach-Haggada? Sehr einfach gesagt ist es ein kleines Buch, oft mit vielen kunstvollen Illustrationen, das Erzählungen versammelt, die man sich am Vorabend des Pessach-Festes im Kreis der Familie vorliest. Zentrale Motive entstammen der Exodus-Erzählung. Ein religiöser Text, gewiss, aber natürlich auch eine Geschichte voller Abenteuer und Wunder. Kurzum, mit jeder Menge Einschränkungen und Vorbehalten gesagt: Die Pessach-Haggadot könnte man sich unter vielen anderen als Vorformen der Text-Bild-Erzählung mit dem irreführenden Namen Comic vorstellen. Und damit begänne eine Geschichte des jüdischen Einflusses in der Entfaltung der neunten Kunst, die von den „Superman“-Erfindern Siegel und Schuster über den famosen Will Eisner bis zum Art Spiegelman der „Maus“-Erzählung von der Shoah oder zu Stan Lee, dem Mann hinter den Marvel-Comics, führt. Und dies wäre in der Tat nicht bloß eine Frage nach der Form in der Verbindung von Wort und Bild, sondern womöglich auch eine Frage nach dem Inhalt. Dort, wo Comics episch werden, werden sie in der Regel auch zum Transportmittel von Mythen. Wie die Traumfabrik Hollywood, so ist auch das inzwischen universale Comic-Universum eine Erzählmaschine, die ihre jüdischen Quellen zugleich enthält und verbirgt. Wie viel Exodus, wie viel Diaspora, wie viel Unbehaustheit enthalten „Superman“ oder „Spider-Man“? Comics konnten zum universalen Medium werden, weil sie im Ursprung von Menschen in der Fremde erzählen. Aber all das ist eine andere Geschichte.

Meike Heinigk / Antje Herden / Jonas Engelmann / Jakob Hoffmann (Hg.): „Nächstes Jahr in“.
Ventil Verlag, Mainz 2021. 168 Seiten. 25 Euro

Hier geht es darum, dass die Sache umgedreht wird. Comics aus Deutschland begeben sich auf die Suche nach den Ursprüngen und Geschichten von 1.700 Jahren jüdischem Leben in dieser Region (ein Land wurde es ja erst im 19. Jahrhundert). Eine Anthologie entstand, die ganz nebenbei die Weite und Vielfalt der grafischen Erzählweise demonstriert, von der Hommage an historische Bildsprachen über den Einfluss der „Ligne claire“ des frankobelgischen Zweigs bis hin zu stilisierteren und skizzenhafteren Varianten. Bemerkenswerterweise ist diese Comic-Produktion aus dem klassischen Fördersystem der Kultur hervorgegangen – dem Festjahr „100 Tage, 1.700 Jahre – Jüdisches Leben in Darmstadt“ –, ein Indiz dafür, dass Comics endgültig als neunte Kunst anerkannt sind und aus den Wurzeln auf Zeitungsseiten, in Kinderzimmern und im Underground ein prachtvoll verzweigtes Gewächs entstand. Der Titel „Nächstes Jahr in“ verweist auf Diaspora und Flucht, aber auch auf eine Möglichkeit der Rückkehr wie in André Kaminskis Roman „Nächstes Jahr in Jerusalem“, der Schluss-Hoffnung des Sederabends, die immer wieder in der Literatur aufscheint, als Hoffnung wider besseres Wissen vielleicht. „Nächstes Jahr in“ lässt also offen, wohin die Reisen gehen, vorwärts oder zurück, denn natürlich gibt es keine „jüdische Geschichte“, sondern nur eine Unzahl von jüdischen Geschichten, die auf eine besondere Art miteinander verbunden sind. In der Anthologie liegt ein Schwerpunkt auf der Region Hessen, was nicht nur dem Verlagsort geschuldet ist. Vielmehr verbindet diese Fokussierung gekonnt konkrete Geschichtsbilder mit dem Exemplarischen.

So beginnt alles mit der Erzählung von der „Darmstädter Haggada“, die Simon Schwartz im Stil alter Buch-Illustrationen oder Wandteppiche aus dem 15. Jahrhundert wiedergibt. Elke Renate Steiner wählt für ihre Geschichte von Glikl bas Judah Leib die Ich-Form aus den Memoiren der Kauffrau aus dem späten 17. Jahrhundert. Besonders abenteuerlich, natürlich, die Geschichte von Abraham Picard, dem jüdischen Räuberhauptmann und Gegenspieler des berühmten Schinderhannes. Tine Fetz erzählt sie in kräftiger Schwarz-Weiß-Optik, während Hans-Jörg Brehm in seiner Geschichte vom Darmstädter Friedhof mit einer dezenten Farb-Dramaturgie Gegenwart und Vergangenheit miteinander verbindet. Büke Schwarz setzt sich auch in ihren Bild-Gestaltungen mit dem Expressionismus des Malers Ludwig Meidner auseinander, der einen prominenten Platz in der Ausstellung der „Entarteten Kunst“ erhielt und von den Nazis ins Exil getrieben wurde. In „Fanny Azenstarck“ erinnert Ka Schmitz an eine starke Person des weiblichen jüdischen Widerstands, und Barbara Yelin übersetzt ein Gedicht von Mascha Kaléko in Bilder, in denen sich große Zartheit und Gewalt zu begegnen scheinen: „Wohin ich immer reise, ich komm nach Nirgendland.“

Tobi Dahmen und Christian Jonathan Lamp sind in „Blue Note Records“ dem epischen Erzählstil der großen Franzosen am nächsten. Sie erzählen die Geschichte der Gründer des möglicherweise bedeutendsten Jazz-Labels und von Alfred Löws und Frank Wolffs Weg von Berlin nach New York. Während hier ein vollständiges und „gelungenes“ Weggehen beschrieben wird, erzählt Hannah Brinkmanns „Jüdische Berufsfachschule Masada“ vom Entschluss zu einer Rückkehr. Und Antje Herden und Marie Hübner erzählen in „Aaron“ fast schon ein Märchen, vom Jungen, der das Herz eines alten Antisemiten öffnet. Mit Miriam Werners und Moni Ports Collage zum Thema Jüdische Gegenwart schließt sich nicht nur thematisch ein Kreis, noch einmal wird deutlich, dass sich die grafischen Arbeiten des Bandes bei aller stilistischen Unterschiedlichkeit durch besondere Treue zu ihrem Material auszeichnen. Zu jedem Comic-Beitrag gibt es einen dokumentarischen Anhang, „Nächstes Jahr“ in ist eben zugleich ein Geschichten- und ein Geschichtsbuch.

Auf die Aktualität so einer Anthologie braucht man angesichts des Wiedererstarkens von offenem Antisemitismus in dieser Gesellschaft nun wirklich nicht mehr hinzuweisen. Umso wichtiger aber ist auch das künstlerische Gelingen. Hier sind ja nicht nur einige der stärksten Talente der deutschen Comic-Szene versammelt, jedem Beitrag sind auch das Engagement und die Reflexion anzumerken, mit denen man sich den Themen genähert hat. Was den Comic (zum Beispiel im Verhältnis zum Film) zu einer so eigenständigen Erzählweise macht, ist die Fähigkeit, Identifikation und Distanz bis ins einzelne Bild hinein zu verbinden. Daraus entsteht eine ganz besondere Form des Miterlebens, des Vorangehens und Verweilens. Nennen wir es Intensität. Eben das, was Erinnerungskultur von jedem Verdacht leerer Ritualität oder historischer Abstraktion befreit.

Dieser Beitrag erschien zuerst in: Freitag 44/2021

Hier gibt es ein Interview mit den Herausgebern Jonas Engelmann und Jakob Hoffmann.

Georg Seeßlen, geboren 1948, Publizist. Texte über Film, Kultur und Politik für Die Zeit, Der Freitag, Der Spiegel, taz, konkret, Jungle World, epd Film u. v. a. Zahlreiche Bücher zum Film und zur populären Kultur, u. a.: Martin Scorsese; Blödmaschinen. Die Fabrikation der Stupidität (zusammen mit Markus Metz); Tintin, und wie er die Welt sah. Fast alles über Tim, Struppi, Mühlenhof & den Rest des Universums; Liebe und Sex im 21. Jahrhundert; Das zweite Leben des ›Dritten Reichs‹. (Post)nazismus und populäre Kultur (3 Bände); Trump! Populismus als Politik; Der Rechtsruck; Coronakontrolle. Nach der Krise, vor der Katastrophe. Kürzlich erschien von ihm Wir Kleinbürger 4.0 bei der Edition Tiamat.

Seite aus „Nächstes Jahr in“ (Ventil Verlag)