Familienporträt und gezeichnete Geschichte Spaniens – „Der gebrochene Flügel“

Als seine Mutter als 80-jährige, gebrechliche Frau stirbt, da erfährt Antonio Altarriba zum ersten Mal, dass sie einen steifen Arm hatte. Schon immer. Denn ihr Vater wollte sie als Neugeborene mit einem Stein erschlagen und traf nur den Arm. Er war außer sich, weil seine geliebte Frau bei der Geburt gestorben war. So beginnt die Graphic Novel „Der gebrochene Flügel“. Antonio Altarriba erzählt darin die Geschichte seiner Mutter Petra, die ihren Makel immer verborgen hat, weil sie funktionieren und parieren musste, um zu überleben.

Bittere Armut ins Gesicht gezeichnet

Antonio Altarriba: „Das Leben der Frauen in Spanien zu Beginn des Jahrhunderts war ungeheuer hart und völlig abhängig von Männern, und zwar bis in die 70er Jahre. Frauen hatten in Spanien weder das aktive noch das passive Wahlrecht und konnten nicht mal ein Bankkonto eröffnen. Sie waren vom Willen ihres Vaters abhängig und dann von ihrem Ehemann. Um diese Abhängigkeit darzustellen, habe ich jedes Kapitel, dass das Leben meiner Mutter erzählt, mit dem Porträt eines Mannes eingeleitet.“

Antonio Altarriba (Autor), Kim (Zeichner): „Der gebrochene Flügel“.
Aus dem Spanischen von André Höchemer. Avant Verlag, Berlin 2019. 264 Seiten. 25 Euro

Die Bilder zur Biografie hat der spanische Comickünstler Kim gezeichnet. Mit prägnanten Strichen zeichnet er den Menschen die bittere Armut ins Gesicht – und überzeichnet sie zugleich so, als wären sie den Milieustudien von Zille entsprungen. Diesen Stil hatte Kim schon für die Comic-Biografie über Altarribas Vater entwickelt. Einem Mann aus ärmsten Verhältnissen, der im spanischen Bürgerkrieg für soziale Gerechtigkeit und gegen Franco gekämpft hatte, später im Zweiten Weltkrieg gegen Hitler. Altarribas Mutter kam in dieser Geschichte nur als prüde Ehefrau vor.

Historischer Sprengstoff

Altarriba: „Meine Mutter war eine außerordentlich fromme Frau, sehr katholisch, sie hat viel gebetet und ist jeden Tag zur Kirche gegangen. Und die Ehe meiner Eltern war wie ein Spiegel der beiden Spanien, die im Bürgerkrieg gegeneinander gekämpft hatten: das konservative, religiöse Spanien und ein revolutionäres, soziales und fortschrittliches Spanien. Solche Ehen waren damals verbreitet – auf persönlicher Ebene war die Koexistenz gegensätzlicher Ideen also möglich.“

Dabei birgt das Leben von Altarribas Mutter weit mehr historischen Sprengstoff als das des Vaters. Denn zur Franco-Ära war sie Haushälterin eines Generals, der unter mysteriösen Umständen ums Leben kam. Altarriba lässt ihn im Comic von Francos Heeresminister persönlich hinrichten.

Altarriba: „Wir haben nur wenig und sehr unzuverlässiges Wissen über die Franco-Diktatur. Zum Beispiel heißt es immer, dass das Franco-Lager sehr geschlossen gewesen sei, während die Republikaner ideologisch zerrissen waren. Aber offenbar gab es auch im Franco-Lager Machtkämpfe – und das ist bis heute ein dunkles Kapitel. Die Hypothese, die ich über den Tod des General aufgestellt habe, ist nicht bestätigt, die meisten Historiker halten sie aber für wahrscheinlich.“

Einigung auf freiheitliche Werte

Altarriba macht in „Der gebrochene Flügel“ klar, was die spanische Diktatur für den Einzelnen bedeutet hat. Das ist die große Stärke seines Comics. Das Frappierende daran: Niemand war sich seines Lebens sicher, auch nicht die Franco-Anhänger. Auch deshalb kann Antonio Altarriba nicht verstehen, dass sich manche Spanier den Geist der Franco-Zeit zurück wünschen.

Altarriba: „Wir haben in derselben Woche Europawahlen und Kommunalwahlen. Und in einigen Regionen wird über die Franco-Diktatur diskutiert, als sei das eine Alternative für Spanien. Deutsche können vermutlich auch nicht nachvollziehen, dass ein Faschist und Hitler-Freund wie Franco immer noch in einem prächtigen Mausoleum begraben liegt, das von Zwangsarbeitern erbaut wurde. Wir müssen diese Zeit aufarbeiten, auch um unsere Demokratie zu sichern. Wir sollten uns darauf einigen, dass unsere Demokratie auf freiheitlichen Werten beruht.“

Dieser Text erschien zuerst am 23.05.2019 in: Deutschlandfunk

Andrea Heinze arbeitet als Kulturjournalistin u. a. für kulturradio rbb, BR, SWR, Deutschlandfunk und MDR.

Panel aus „Der gebrochene Flügel“ (Avant Verlag)