Samt Fahrrad im Boden versinken

Die neuen Graphic Novels von Helena Baumeister und Aude Picault spielen in Zeiten von Tinder und TikTok. Glücklich macht das nicht unbedingt.

Die Kunst der Comics ist auch eine Kunst der Covergestaltung. Bei Klassikern steht einem oft sofort das Umschlagbild vor dem geistigen Auge: Tim und Kapitän Haddock, auf Kamelen durch die Wüste reitend („Die Krabbe mit den goldenen Scheren“), ein blutbespritztes Smiley („Watchmen“) oder das Porträt der coolen Chihuahua Pearl auf dem gleichnamigen „Blueberry“-Album. Mit dem Cover von „oh cupid“ ist Helena Baumeister eine Bild-Text-Kombination gelungen, die ebenfalls treffend auf zentrale Aspekte ihrer ersten Graphic Novel hinweist. Zwei Vögel halten in ihren Schnäbeln ein Banner, auf dem der Name der Zeichnerin steht. Darunter ein junges Paar auf einer Parkbank. Sie schaut ihn etwas skeptisch an. Er hat sich, das Kinn auf die rechte Hand gestützt, halb liegend hingefläzt, aber sein Gesicht wird von dem Schriftzug des Titels verdeckt.

„Cupid“ ist der englische Begriff für Cupido, den kleinen, geflügelten Liebesgott aus der antiken Mythologie. Von der Liebe erzählt Baumeister denn auch, genauer gesagt: von der Schwierigkeit, eine Liebe zu finden, die über einen One-Night-Stand hinausgeht. Ihre autobiografisch inspirierte Hauptfigur sucht mögliche Partner, schnell von einem zum anderen wischend, im Internet. Der Comic schildert zwei Begegnungen mit ihrem vierten, namenlos bleibenden Date, an deren Ende Helena sexuell befriedigt, doch unglücklich zurückbleibt.

Von den vielen anderen Graphic Novels, die aus dem eigenen Leben geschöpft sind, hebt „oh cupid“ sich zunächst durch die originelle Bildsprache ab. Baumeisters Bleistiftzeichnungen sind nur spurenweise realistisch, meist aber von der subjektiven Wahrnehmung der Ich-Erzählerin geprägt. Wenn diese sich, peinlich berührt, daran erinnert, ihre Fußnägel nicht geschnitten zu haben, rückt ihr Fuß überdimensioniert groß in den Vordergrund. Ist sie von einer Bemerkung ihres Dates gekränkt, versinkt sie samt ihrem Fahrrad nach und nach buchstäblich im Boden.

Bild aus „oh cupid“ (Avant-Verlag)

Unpeinliche Sexszenen

Auch der schwierigen Aufgabe, unpeinliche Sexszenen zu zeichnen, zeigt Baumeister sich mit einer mehrseitigen Folge expliziter, aber skizzenhafter Bilder gewachsen. Zugleich macht sie deutlich, wie fremd Helena und ihr Liebhaber sich bei aller physischen Nähe letztlich bleiben: Wenn die beiden, fast nur als Kontur gezeichnet, auf einer Doppelseite nebeneinander im Bett liegen und sich anschauen, lassen ihre großen weißen Körper zwei Kontinente assoziieren. Kommt Baumeister hier ganz ohne Worte aus, überzeugt ihr Comic ansonsten auch durch seinen (selbst-)iro­ni­schen Humor. Denkblasen teilen Helenas Unsicherheiten und Wünsche mit; dazu kommentiert ein freches Vogelpaar das ihm lächerlich erscheinende menschliche Gebalze. „Herrjeh … Was für eine trübe Tasse“, stellt die Amsel fest, als Helena am Ende bedrückt nach Hause schlufft.

„oh cupid“ – den Titel darf man wohl als Stoßseufzer verstehen – bietet ein kondensiertes Porträt der Generation Tinder, das zugleich ziemlich traurig und sehr komisch ist.

Ein paar Schritte weiter auf dem Lebensweg ist Amalia, die dauergestresste Hauptfigur im gleichnamigen Comic der französischen Zeichnerin Aude Picault. In deren Graphic Novel „Ideal Standard“, 2017 erschienen, war die Krankenschwester Claire mit Mitte 30 auf der vergeblichen Suche nach der großen Liebe. Amalia ist nun ein wenig älter und lebt in einer Patchworkfamilie. Ihr Ehemann Karim hat die inzwischen halbwüchsige Tochter Nora in die Ehe mitgebracht; die ungefähr drei- oder vierjährige Lili entstammt der Verbindung mit Amalia.

Bild aus „Amalia“ (Reprodukt)

Karim arbeitet in einer Fabrik, die Brot industriell herstellt und sich trotz ihres Slogans „Tradition mit Geschmack!“ nicht um der Gesundheit förderliche Rezepturen und ökologische Standards schert. Amalia, ebenfalls in einem großen Unternehmen tätig, reibt sich, noch mehr als ihr Mann, in dem Versuch auf, Beruf und Familie zu vereinbaren. Sie beginnt, zunehmend unter schweren psychosomatischen Beschwerden zu leiden. Nora vernachlässigt währenddessen die Schule und träumt davon, nach dem Vorbild einer von ihr verehrten Influencerin, selbst zum TikTok-Star zu werden.

Der letzte Wal ist verendet

In einer nahen Zukunft angesiedelt, hat „Amalia“ Züge einer Dystopie. Die Klimakatastrophe ist vorangeschritten. Getreide wird maximal mit Chemikalien geboostert; gerade ist auf dem letzten Eisberg der letzte Wal verendet. Angesichts all dieser Kalamitäten ist es ein wenig unglaubwürdig, dass der Comic dennoch in ein Happy End mündet, als dessen Auslöser schon ein plötzlich harmonisch verlaufender Familienurlaub auf dem Land und der Entschluss, sich zukünftig nur von ökologisch korrekt erzeugten Lebensmitteln zu ernähren, genügen.

„Amalia“ ist hübsch gezeichnet, aber ihr Bestes gibt Aude Picault doch in den Dialogen, in denen sie den teilweise englisch geprägten Influencer- und Industriesprech wiedergibt. Nora ist „voll excited“, ein „Entlassungsplan“ wird zum „Agile Competence Plan“ schöngeredet, und Amalias unbarmherzig dynamische Chefin schwärmt phrasenhaft von „Schlüsselpositionen für Schlüsselpersonen“. In dieser bissigen soziologischen Genauigkeit kommt Picault ihrem Vorbild Claire Bretécher nahe, deren Namen sie der Nebenfigur einer autoritären Lehrerin verleiht.

Dieser Text erschien zuerst am 11.05.2023 in der taz.

Helena Baumeister: oh cupid • Avant-Verlag, Berlin 2023 • 104 Seiten • Softcover • 18,00 Euro

Aude Picault: Amalia • Aus dem Französischen von Lilian Pithan • Reprodukt, Berlin 2023 • 148 Seiten • Hardcover • 24,00 Euro

Christoph Haas lebt im äußersten Südosten Deutschlands und schreibt gerne über Comics, für die Süddeutsche Zeitung, die TAZ, den Tagesspiegel und die Passauer Neue Presse.