Eine typische Eckkneipe namens „Zur Sonne“ wird in der gleichnamigen Graphic Novel von Matthias Lehmann zum Ausgangspunkt für allerlei Geschichten. Gemeinsam mit drei Autor*innen erzählt der Leipziger Comiczeichner und -autor verschiedene Episoden des Hadern und Aufbrechens.
Der Kneipenbetrieb ist kein Zuckerschlecken – das wird schon im ersten Bild klar. Mit schmerzverzerrtem Gesicht wuchtet der Kneipier ein Bierfass an den Tresen, landet in einer Wasserlache, flucht, der Kühlschrank ist kaputt. Die Kneipe hat ihre besten Jahre hinter sich: „Zur Sonne“ heißt sie, wie das Buch, und Matthias Lehmann zeichnet sie als eine typische Eckkneipe in einem Leipziger Gründerzeitquartier. Innen ist es auch tagsüber schummrig – und wenn der Kneipenbetrieb losgeht, eröffnet sich ein ganz eigener Mikrokosmos. Einfache Menschen aus der Nachbarschaft trinken da abends ihr Bier.
Aber auch ein junger Pianist kommt vorbei, der mit sich hadert, obwohl er erfolgreich Konzerte gibt. In der Kneipe trifft er auf die Putzfrau, kommt mit ihr ins Gespräch und macht ihr schmerzhaft bewusst, dass sie eigentlich andere Pläne mit dem eigenen Leben hatte, der Putzjob eigentlich nur eine Übergangslösung sein sollte. Die Episode mit dem Pianisten und der Putzfrau ist eine Idee von Katja Klengel. Matthias Lehmann hat drei Kolleg*innen gebeten, Kneipengäste und deren Geschichten zu erfinden. So sollte ein besonders vielfältiges Milieu der Kneipenbesucher entstehen. Es sind Geschichten des Haderns und des Wandels, die in den Episoden erzählt werden.
Die Dresdner Filmemacherin Nina Hoffman stellt in ihrer Episode zum Beispiel einen Schriftsteller vor. Allerdings einen, der gar nicht schreibt, weil er in einer Schaffenskrise steckt. Nina Hoffmann zeigt mögliche Gründe für diese Krise: etwa, dass Joshua psychische Probleme hat, die er mit seinem Psychiater lösen will. Oder dass er so knapp bei Kasse ist, dass er sich prostituiert. Joshua darf jeden Abend bei Frank duschen. Dass er keine Geschichte zu Papier bringt, wissen die anderen Gäste und ziehen ihn damit auf. Frank aber glaubt an ihm und bringt ihm zum Bier ein Blatt Papier und Stift zum Schreiben.
Die Geschichten der einzelnen Gäste sind vielfältig und werden durch die Zeichnungen von Matthias Lehmann zusammengehalten. Wie schnell hingeworfene Tuschemalerei wirkt diese Graphic Novel, die am PC entstanden ist. Und der Kneipier Frank hält alles zusammen. Ihm geht am Anfang nicht nur der Kühlschrank kaputt, sondern auch die Beziehung zu seiner Tochter droht zu zerbrechen.
Die lebt irgendwo in Südeuropa und wünscht sich, dass ihr Vater zu Besuch kommt, um seinen Enkel kennenzulernen. Am Telefon wiegelt Frank ab, weil er als Kneipier einfach keine Zeit hat. Doch auch Franks Leben ist im Umbruch. Denn die Graphic Novel zeigt Franks letzten Abend in der Kneipe. Dass es so ist, weiß Frank am Anfang nicht mal selbst. Er beschließt einfach irgendwann, am nächsten Morgen zu seiner Tochter in den Süden zu fahren, zu Sonne eben.
Die Graphic Novel „Zur Sonne“ ist ein Vergnügen für Liebhaber von Eckkneipen. Und für all jene, die Menschen mit ihren Brüchen und Wendepunkten mögen.
Dieser Beitrag erschien zuerst am 08.05.2023 auf: MDR Kultur
Matthias Lehmann (Zeichner), Katja Klengel, Nina Hoffmann, Sascha Herrmann (Autor*innen): Zur Sonne • Reprodukt, Berlin 2023 • 112 Seiten • Hardcover • 20,00 Euro
Andrea Heinze arbeitet als Kulturjournalistin u. a. für kulturradio rbb, BR, SWR, Deutschlandfunk und MDR.