Mit „Der Glöckner von Notre-Dame“ setzt Georges Bess seine Reihe mit pompösen Comic-Adaptionen von großen Klassikern der Weltliteratur nahtlos fort.
In einer wunderbaren Szene der Film Noir-Hommage „Dead Men Don’t Wear Plaid“ spricht ein schwitzender Charles Laughton (natürlich per zusammengeschnippelten Filmsequenzen) mit Steve Martin, der auf die Frage „And who could I be?“ lapidar antwort: „I don’t know – the hunchback of Notre-Dame?“ Diesen hatte Laughton nämlich in der gefeierten Filmversion, die William Dieterle 1939 inszenierte, mit erschreckendem Make-up legendär zum Leben erweckt (und damit der Erbe des „Mannes der 1000 Gesichter“ Lon Chaney mehr als würdig fortgeführt, der den Glöckner 1925 gegeben hatte), bevor dann Anthony Quinn 1956 als buckliger Glöckner um die Gunst von Gina Lollobrigida als Esmeralda warb.
So im populären Bewusstsein verankert, liegt der Fokus der Filme auf einer Handlungsebene, die in Victor Hugos Roman nur einen der zahlreichen Erzählstränge darstellt. Treffender einfach „Notre-Dame de Paris. 1482“ betitelt, bildet im Roman von 1831 nämlich eher die monumentale Kathedrale das Zentralmotiv der Handlung, die den Figuren Frollo, Gringoire und Phoebus mindestens ebenso viel Platz einräumt wie dem Glöckner selbst, bevor sich am Ende alle Erzählebenen kreuzen. Das bunte Sittengemälde des mittelalterlichen Paris fährt eine Phalanx an korrupten Edelmännern, lüsternen Kirchenleuten und Dieben auf, die allesamt in die Vorgänge um die hübsche Esmeralda verwickelt sind.

Dabei sind die Figuren durchaus differenziert gezeichnet: Frollo etwa ist nicht nur der abseitige Priester, sondern auch barmherzig und gutmütig (er versucht den Findling Quasimodo so gut zu erziehen wie möglich, und seinem Taugenichts-Bruder Jean hilft er regelmäßig aus). Die als „Ägypterin“ bezeichnete Esmeralda, die – in einem eher abenteuerlichen Plot-Twist – am Ende doch noch ihre verloren geglaubte Mutter findet, gehört zu den entrechteten und verfolgten Sinti und Roma.
Mit dieser sehr werkgetreuen Comic-Umsetzung setzt Georges Bess nahtlos die Reihe seiner monumentalen Adaptionen von Klassikern der Weltliteratur („Dracula“, „Frankenstein“) fort: großformatig, wuchtig, akribisch an der Vorlage entfaltet Bess das mittelalterliche Panorama, in dem epische Szenerien wie Ansichten der Kathedrale, das emsige Treiben auf dem Platz der Wunder und die Menschenmassen in den Straßen im dynamischen Schwarz-Weiß-Tuschestil zum Leben erwachen. Teilweise humoristisch, teils auch durchaus optisch beklemmend (vor allem in den Szenen im Folterkeller, als man Esmeralda wegen Hexerei „verhört“), brilliert die Inszenierung aber rund um Quasimodo, der als lebendiger Teil der Kathedrale auf den höchsten Türmen umherspringt und – in ganzseitigen, fließenden Darstellungen – gewissermaßen eins wird mit den Glocken, die ihn schon längst sein Gehör gekostet haben.
Dieser Text erschien zuerst auf Comicleser.de.
Georges Bess: Der Glöckner von Notre-Dame • Splitter Verlag, Bielefeld 2024 • 208 Seiten • Hardcover • 39,80 Euro
Holger Bachmann ist Autor diverser Bücher und Aufsätze zur Film- und Literaturgeschichte. Neben Comicleser.de schreibt er auf kühleszeug.de über Konzerte und geistvolle Getränke.

