Mr. Christin goes to Europe

Pierre Christin, Jahrgang 1938, ist seit Jahrzehnten einer der profiliertesten franko-belgischen Comic-Autoren. Lesern ist er einerseits bekannt durch seinen Science-Fiction-Dauerbrenner „Valerian & Veronique“, den er gemeinsam mit seinem Kindheitsfreund Jean-Claude Mézières realisiert und der von Luc Besson jüngst verfilmt wurde, und andererseits durch seine mitunter phantastisch angehauchten Polit-Thriller, die Enki Bilal (u. a. „Alexander Nikopol“) für ihn in Szene setzte. Jüngst erschien bei uns die 50er Jahre Krimiserie „Detektei Hardy“, die er zusammen mit der vor kurzem verstorbenen Zeichnerin Annie Goetzinger schuf (zwei Integral-Bände bei Kult Comics). Hier in dem schlicht „Ost-West“ betitelten Band, der nach Christins eigenen Worten keine Autographie sein will, gibt er zwar wenig Privates Preis, schildert dafür aber ganz im Stil einer Reportage die Geschichte einiger Stationen seines Lebens, die meist mit ausgiebigen Reisetätigkeiten verbunden sind.

Pierre Christin (Autor), Philippe Aymond (Zeichner): „Ost-West.
Carlsen, Hamburg 2019. 144 Seiten. 19,80 Euro

Der Band setzt 1965 ein, als Christin Professor an der Uni in Salt Lake City wird. Aus seiner subjektiven Perspektive schildert er seine ersten Eindrücke, die er notizartig für uns, die Leser, festhält. Seine Beobachtungen scheinen mitunter banal, sind dabei aber stets entfernt vom Mainstream. Mit von der Partie ist sein Weggefährte Jean-Claude Mézières, der auf einer Ranch als Cowboy arbeitet. Beiden gelingt es, eine erste Kurzgeschichte in dem legendären Comic-Magazin „Pilote“ zu platzieren. Für Christin als Quereinsteiger in die Branche ein willkommenes Zubrot. Mehr erst einmal nicht. Dann folgt eine Rückblende zu gemeinsamen Kindheitstagen. Gemeinsam im Luftschutzbunker, der unangenehme Anblick der deutschen Soldaten im besetzten Paris, erste Berührungen mit dem Schreiben. Später studiert Christin an der Sorbonne. In dieser Zeit begegnen er und Mézières erstmals Jean Giraud alias Moebius (was mit einer wunderbaren Hommage an den „Blueberry“-Zeichner verknüpft ist).

Das nächste Kapitel startet nach der Rückkehr aus den USA. In den Räumen von „Pilote“ trifft Christin auf die Autoren-Granden René Goscinny und Jean-Michel Charlier, die ersten Geschichten von „Valerian & Veronique“ entstehen 1967, gefolgt von einer Zusammenarbeit mit Jacques Tardi („Aufruhr in der Rouergue). Die Comic-Karriere kommt ins Rollen. Auch Christins Wagen, ein Renault 10 (siehe Cover), rollt wieder. Diesmal auf die andere Seite des Eisernen Vorhangs. Zuerst gemeinsam mit Mézières, später alleine, bereist er immer wieder, beginnend mit Ungarn, die Länder des damaligen Ostblocks, will aus erster Hand sehen und erfahren, wie die Menschen dort leben. Er lernt die Tücken und Lücken der Planwirtschaft kennen und findet eine mangels Technik und Fortschritt nostalgische Welt vor, die ihn einerseits fasziniert, andererseits aber auch abstößt (das bunte, ursprüngliche Leben der Roma in Ungarn vs. das triste, graue Ost-Berlin vor der Wende). Bis nach Tschernobyl führen ihn seine Reisen.

Natürlich lässt Christin bei seinen Reiseschilderungen die Politik nicht aus. In jedem Kapitel werden die politischen Entwicklungen jener Zeit oder des Landes geschildert und kommentiert, das er gerade bereist. In den USA teilt er seine Gedanken hinsichtlich der Hippie-Bewegung, es geht um Vietnam und die Rassentrennung. Zurück in der Heimat wird der Algerien-Krieg angesprochen, wie später auch die 68er oder die endlosen Diskussionen an der Universität. Im Ostblock ist das politische System sowieso allgegenwärtig und beim Übertritt von Ost- nach West-Berlin überwältigt ihn ein regelrechter Kultur- oder Konsum-Schock. Interessant sind die Inspirationsquellen für seine Alben, auf die er immer mal wieder zu sprechen kommt: Eine Datscha, in der sich angeblich Politbonzen treffen, inspiriert ihn zu dem Album „Treibjagd“ (mit Enki Bilal). Auch andere, vermeintlich alltägliche „Szenen“ finden sich in Alben wieder, wie beispielsweise in „Lenas Reise“ (mit André Juillard).

Auch „Durchbruch“ wird angesprochen, jene Anthologie, die nach dem Mauerfall gemeinsam mit dem damaligen Chefredakteur von Carlsen, Andreas C. Knigge, entstand und für die Zeichner aus dem Ostblock gewonnen werden konnten. Knigge schreibt auch das Nachwort, in dem er auf seine Begegnungen und Reisen mit Christin eingeht – eine unterhaltsame Ergänzung. Quasi als Running Gag – auch das erwähnt Knigge – müssen die diversen Autos herhalten, die Christin so gerne verschleißt (er reist am liebsten per PKW, egal wo). Ständig gibt es Pannen oder Totalausfälle, die süffisant kommentiert werden. Fazit: keine Autobiographie, sondern eine interessante Reise in die Vergangenheit und das Leben des Autors Christin, in der nicht er selbst, sondern das Erlebte und seine Weggefährten im Mittelpunkt stehen. Die realistischen Zeichnungen besorgte Philippe Aymond, mit dem Christin bereits zusammenarbeitete und der bei uns durch seine Reihe „Lady S.“ (bei Schreiber & Leser) bekannt ist.

Dieser Text erschien zuerst auf: Comicleser.de

Bernd Weigand ist schon über vier Jahrzehnte in Sachen Comics unterwegs: lesen, sammeln, übersetzen. Schreibt auch seit 20 Jahren über Comics, seit 2010 auf comicleser.de.