Steampunk meets Piraten-Utopie meets englische Folklore

Im London des Jahres 1830 wird die gesellschaftliche Ordnung auf der Straße durch rivalisierende Eingreiftruppen gewährleistet: die (sympathisch-verschrobenen) Peeler und die (weitaus weniger sympathischen) Bow Street Runners. Als eines Nachts ein Peeler brutal getötet und ein seltsamer Zeitgenosse auf der Flucht gesichtet wird, gelingt es Konstabler Charlie Gravel, dem Verdächtigen auf der Spur zu bleiben. Kein gewöhnlicher Krimineller, sondern ein mit mechanischen Prothesen, elektrifizierter Seehilfe und kleidsamem Zylinder ausgestatteter Typ mit sechsläufiger Handfeuerwaffe. Schon verrückt genug? Wir sind erst am Anfang! Unterbrochen von erläuternden Textseiten, deren technische Illustrationen die Fortschrittsvisionen vergangener Zeiten vor Augen führen, rasen wir staunend durch eine Welt, die sich nicht entscheiden kann zwischen Frühindustrialisierung und Science Fiction.

Captain Swing ist eigentlich Doktor Jonathan Reinhardt, selbsternannter Wissenschaftler und Naturphilosoph: „Mein Ziel ist es, der wahren Zukunft den Weg zu ebnen. Einer Zukunft der Wissenschaft und der Naturphilosophie.“ Er träumt von einer Welt der Wissenschaft, in der die Technik keine sozialen Gräben aufreißt, einer Zeit, in der Bildung allen offensteht.

Warren Ellis (Autor), Raulo Cáceres (Zeichner): „Captain Swing und die elektrischen Piraten von Cindery Island“.
Aus dem Englischen von Jens R. Nielsen. Dantes Verlag, Mannheim 2019. 128 Seiten. 17 Euro

„Wenn wir die herrschende Klasse beseitigt und die Regierungsform geändert haben werden, werden diese Leute hier ins Land hinausgehen. Sie werden lehren, was sie hier gelernt haben, und ihre Schüler werden Lehrer werden, Wissen wird sich verbreiten. Freies Wissen für alle.“ Schön wäre es. Haben wir dank Glasfaserkabeln in jedem Dorf dieses freie Wissen für alle eigentlich erreicht? Oder sind die Gräben tiefer als zuvor – Captain Swing hütet sich davor, auf unsere Gegenwart mit viktorianischer Hellsichtigkeit zu schauen, aber der Technikdiskurs führt unweigerlich dazu, Parallelen zu suchen. Natürlich stirbt Captain Swing, aber genau genommen stirbt Jonathan Reinhardt, denn die Schweißerbrille, Symbol seiner Ideen, gibt er weiter.

Die Texte sind, na ja, zotig, über mehrere Seiten zieht sich die Sprachlosigkeit der hilflosen Ordnungshüter dahin: „Bei Gottes klaffendem Arschloch! Hast du … – Gnn … nnnf! – Mist! Kacke! – Verf … – Verfickt! – Nah gut. Ich nehm‘ dich fest, du!“

Ellis bündelt Steampunk-Flair mit Piraten-Story und englischer Folklore: Der „Spring Heeled Jack“ ist eine irgendwo zwischen Kriminalistik und Parawissenschaften herumgeisternde Erscheinung, die ab 1837 in Londoner Vororten beobachtet wurde, und Captain Swing war im Jahr 1830 der Name, mit dem im Zuge der englischen „Swing Riots“ eine Reihe von Briefen unterschrieben wurden. Die „Swing Riots“ sind eine Reaktion auf technologische Modernisierungs- und Automatisierungsprozesse, die die Arbeitswelt nachhaltig verändern sollten – das spüren wir noch heute und werden es auch in der Zukunft noch tun.

Ein Maschinenstürmer aber ist dieser Captain Swing wirklich nicht, vielmehr gehört er mit seinen Gadgets zur technologischen Avantgarde – auch modisch. Seine etwas obskur bleibende Sozialutopie erinnert manchmal an Alan Moores und David Lloyds „V for Vendetta“ (1982-85), wo ein selbsterklärter kostümierter Rächer die Gesellschaft zum Guten zwingen möchte, visionär über das Stadtpanorama blickt und seine Ideen weitergibt.

Keine Frage, Warren Ellis‘ größter Erfolg war die Cyberpunk-Serie „Transmetropolitan“ (1997–2002) um den abgewrackten Journalisten Spider Jerusalem. Geschrieben von Ellis, gezeichnet von Darick Robertson erlebte „Transmetropolitan“ 60 Ausgaben bei Vertigo und ist damit Ellis‘ nach „Freak Angels“ (2008–11, 144 Ausgaben) längstes Projekt. „Captain Swing“, 2010 in vier Ausgaben bei Avatar erschienen, mag einst nicht als sein Hauptwerk erinnert werden, ist aber eine glückliche Kooperation mit dem spanischen Zeichner Raulo Cáceres, der u. a. für die Zombiekalypse „Crossed“ gezeichnet hat. Im Vergleich mit dem Historien-Comic von Ellis und Cáceres, „Crecy“, merkt man, dass die düstere Kolorierung die feinen Zeichnungen von Cáceres in den Hintergrund rückt.

Wer die schrägen Storys von Ellis zu schätzen weiß, wird sich über das Engagement des Mannheimer Kleinverlags Dantes gefreut haben, denn dieser hatte 2019 ein regelrechtes Ellis-Jahr ausgerufen: Mit „Äthermechanik“, „Narben“, „Crécy“ und „Apparat – Vier Singles“ sind 2019 zahlreiche Ellis-Titel durch Dantes auf den deutschsprachigen Markt gelangt. Und natürlich, zu unserem Glück, auch „Captain Swing“.

Hier gibt es eine weitere Kritik zu „Captain Swing“.

Gerrit Lungershausen, geboren 1979 als Gerrit Lembke, hat in Kiel Literatur- und Medienwissenschaften studiert und wurde 2016 promoviert. Er hat Bücher über Walter Moers, Actionkino und den Deutschen Buchpreis herausgegeben. 2014 hat er zusammen mit anderen das e-Journal Closure gegründet und ist bis heute Mitherausgeber. Derzeit lebt er in Mainz und schreibt für Comicgate und die Comixene. An der TU Hamburg-Harburg unterrichtet er Comic-Forschung.

Seite aus „Captain Swing und die elektrischen Piraten von Cindery Island“ (Dantes Verlag)