Die alte Frau und der Wald – „Aristophania“

Frankreich während der Belle Époque im Jahre 1900: Der Stahlarbeiter Clément Francoeur, Vater von drei Kindern, wird kurz nachdem ihn eine alte Dame aus noblem Hause aufsucht, spektakulär ermordet. Auf Drängen der Dame verlässt Cléments Frau Adèle Marseille, zieht nach Paris und führt dort gemeinsam mit ihren Kindern ein karges, ärmliches aber friedliches Leben. Neun Jahre später ist Basile, der älteste Sohn, beinahe erwachsen. Er arbeitet in der Fabrik, ist Realist und kümmert sich um seine Geschwister. Sein jüngerer Bruder Victor ist hochintelligent und wird so zum Prügelknaben an der Schule. Die Jüngste der drei ist Calixte, 9 Jahre alt und ein verträumtes, naturverbundenes Mädchen.

Nun gibt es in der Fabrik, in der auch Mutter Adèle schuftet, Ärger. Unbekannte erkundigen sich nach ihr und den Kindern. Als die Polizei auftaucht, kommt es zum Handgemenge, Adèle wird inhaftiert. Nun hat die alte Dame von damals erneut einen großen Auftritt. Eindrucksvoll und gründlich entledigt sie sich der Häscher, die nach den drei Geschwistern suchen. Ihr Name, so sagt sie, sei Aristophania, oder einfach „Frau Gräfin“. Sie nimmt die Kinder mit nach Südfrankreich in ein großes Landgut mit riesigem, wildem Grundstück, das sie Azur nennt. Doch stellen die sich langsam die Frage: Warum tut die alte Dame all das für sie? Welche Motive stecken wirklich hinter ihrem Tun?

Xavier Dorison (Autor), Joël Parnotte (Zeichner): „Aristophania, Band 1“.
Aus dem Französischen von Tanja Krämling. Splitter Verlag, Bielefeld 2020. 64 Seiten. 16 Euro

Der allseits bekannte Autor Xavier Dorison (u. a. „Undertaker“, „Red Skin“, „Ulysses 1781“) und Zeichner Joël Parnotte („Das Geschlecht derer von Porphyre“), die gemeinsam bereits für den Splitter-Einzelband „Der Waffenmeister“ verantwortlich waren, starten ihre neue Fantasy-Serie hauptsächlich aus Sicht der Kinder. Was bedeutet, dass der Leser wie diese bis zum Schluss über die ganz offenbar magisch-mystischen Vorgänge ebenso im Unklaren gelassen wird. Beim Mord am Vater fallen Begriffe wie „Der Dunkle Hof“, „Das Zweite Reich“, „Der Verbannte König“ oder „Das Morgenrot“, ohne dass man damit in der Folge etwas anzufangen weiß. Nur angefixt, das wird man. Erst zum Schluss erfährt Victor beim Lauschen Genaueres, was letztlich den Weg für den Folgeband ebnet.

Was man aber gleich ahnt, ist, dass es inmitten der Gesellschaft eine Art magischen Geheimkrieg gibt, zwei Parteien, die sich unbemerkt von den Normalsterblichen bekämpfen. Und das heftigst. Vater Clément wird ein Opfer dieses Kampfes. Jahre später gelangen auch die Kinder ins Visier der dunklen Seite – warum, wissen weder wir noch sie. Auch Aristophania scheint ihr Wissen nicht preisgeben zu wollen. Die alte Dame ist der Star des Bandes. Eine mondäne Erscheinung, nur äußerlich gebrechlich, wird sie gerne unterschätzt, demonstriert dann aber eindrucksvoll ihre große magische Macht. Und die Kinder verhalten sich auch wie solche. Ignorieren die Anweisungen Aristophanias und geben ihrem Entdeckerdrang nach – was sie letztendlich in große Gefahr bringt.

Ein spannend zu lesender Band, den eine wohlig mystische Aura durchweht und in dem die Fantasy-Elemente v .a. in den bestens arrangierten, überraschenden wie brachialen Action-Sequenzen zum Tragen kommen. Weniger ein Märchen, wie es Splitter auf der Homepage beschreibt, sondern eher eine sorgfältig angelegte Fantasy-Story mit einem unverbrauchten Setting. Parnotte bleibt dabei seinem realistischen Stil, der schon beim „Waffenmeister“ bestechend, war, treu und hält sich von jeglichen optischen Beschönigungen fern. Sicher, die Landschaft des Azurs beindruckt in ihrer Opulenz und Schroffheit, wie aber auch die triste Gegend, in Paris, in der die Familie Francoeur aufgrund ihrer Armut hausen muss und sich gezwungen sieht, für einen mickrigen Lohn und unter widrigen Bedingungen in der Fabrik zu schuften. Band 2 (von vier geplanten) kommt im August.

Dieser Text erschien zuerst auf: Comicleser.de

Bernd Weigand ist schon über vier Jahrzehnte in Sachen Comics unterwegs: lesen, sammeln, übersetzen. Schreibt auch seit 20 Jahren über Comics, seit 2010 auf comicleser.de.

Seite aus „Aristophania, Band 1“ (Splitter Verlag)