Es war einmal… und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute. Märchenformeln und -strukturen erkennen wir, Grimm sei Dank, intuitiv. „Es war einmal ein Vater, der hatte drei Söhne.“ Mehr brauchen wir nicht, um uns zwischen Rotkäppchen, Dornröschen und dem tapferen Schneiderlein einzurichten. Die grimmschen Märchen sind im Original oft blutiger, als die heutigen Kinderausgaben es vermuten lassen, und Debeurme knüpft mit „Ein tugendhafter Vater“ genau dort an: Blut.
Es war einmal ein tugendhafter Vater, der hatte keine Frau mehr, aber drei Söhne: Bird, Twombly und Horn. Sie wohnten gemeinsam in der Fremde und gingen ihrem Alltag nach: Die Söhne lernten in der Schule, während der strenge Vater mit bösen Menschen zusammenarbeitete.
Absolut märchentauglich so weit, und dann läuft alles aus dem Ruder, als Horn sich als rundherum behaart herausstellt, als Twombly sich als Schnitzer grotesk-brutaler Figuren erweist und als Bird seine Fähigkeiten als Vogelflüsterer unter Beweis stellt. Mit denen stimmt etwas nicht. Aber damit ist erst der Grundstein der Seltsamkeiten gelegt…Als Twombly in einer (einvernehmlichen) erotischen Situation erwischt wird, bestraft der Vater ihn hart: Das ganzseitige Panel zeigt den Vater mit einer Säge in den Händen: „Du wirst nie wieder etwas berühren.“ Und es geschieht, was grausamerweise geschehen muss. Bird wiederum beobachtet eine nackte Frau ohne deren Wissen und wird ebenfalls dabei überrascht: „Du sollst nie wieder etwas sehen…“, sagt der Vater, während er ein langes, spitzes Werkzeug in seiner Hand hält, den Jungen im Schwitzkasten.
Die Geschichte ist so geradlinig strukturiert und oft so formelhaft geschrieben wie ein Kindermärchen, allerdings unterlaufen die drastischen Darstellungen die Lektüreerwartungen fast schon spektakulär: Die eindrucksvollen Szenen mit kindlichen Opfern wirken geradezu verstörend, vergleichbar mit dem Effekt, den Nina Bunjevac vor Kurzem in „Bezimena“ erzielte.
„Ein tugendhafte Vater“ erzählt von Gewalt, Künstlerschaft, Hybridität und der Emanzipierung der Söhne von ihrem Vater, den sie am Ende für seine Missetaten bestrafen. Die Figuren sind alles andere als statisch, aber ihre Dynamik verurteilt sie meist zu einer verhängnisvollen Progression schnurstracks ins Verderben. Ob der Tod des Vaters, der schließlich als kopfloser Riese enden wird, eine Befreiung für die drei Kinder ist, bleibt offen.
Mit „Lucille“ (2006), für das Debeurme den René-Goscinny-Preis und den Angoulême Essential Award erhielt, und das daran anknüpfende Sequel „Renée“ (2011) hatte Debeurme es auf den US-amerikanischen Markt geschafft. Beide Bände erschienen bei Top Shelf, 2011 und 2016, und wurden von der Kritik überwiegend positiv aufgenommen.
Damit endet die internationale Publikationshistorie Debeurmes aber auch schon: Weder „Terra Maxima“, „Epiphania“ noch „Trois Fils“ liegen bislang in anderen als der Originalsprache vor. „Ein tugendhafter Vater“ ist der erste Titel, der es auf den deutschen Markt geschafft hat.Die Zeichnungen sind reduziert, die Hintergründe nur angedeutet, die Figuren durch markante Details voneinander unterschieden. Im Gegensatz zu dem spärlichen schwarzen Strich in „Lucille“ und „Renée“ kontrastiert Debeurme die drastische Geschichte mit einer harmlos daherkommenden Buntstiftästhetik in Blau, Rot und Grün.
Der Hauptsatzminimalismus trägt zusammen mit den Märchenmotiven und den Zeichnungen dazu bei, den Comic auf Anhieb falsch einzuschätzen: „Unser neues Haus hat viele Zimmer. Jeder hat sein eigenes Bett. Durch die Fenster sieht man den Garten.“ Das Grauen lauert, wie immer, im Untergrund. Die Visualisierung von Unbewusstem, Symbolischem und die Faszination für menschlich-tierisch-pflanzliche Hybridisierungen knüpft an die Welten von Charles Burns („Black Hole“) an und ist ähnlich beunruhigend. Hier wie dort gehen die Realitätsebenen ineinander über: Traum, Fantasie und Symbolisches lassen sich nicht immer klar von der eigentlichen Handlungsebene trennen.
Mit „Ein tugendhafter Vater“ hat Edition Moderne sich entschieden, einen Titel Debeurmes aus dem Publikationszusammenhang zu reißen: 2013 veröffentlichte Debeurme die achtzigseitige Geschichte „Trois Fils“ und ließ 2015 mit „Un père vertueux“ ein Prequel in ganz anderem Stil folgen, um die Vorgeschichte des rätselhaften Comics zu ergründen. „Formal“, so Julia Marti von Edition Moderne, „hat uns ‚Un père vertueux‘ am meisten verführt. Es fügt sich schön in Ludovics Kosmos ein und funktioniert auch als eigenständige Geschichte. Wir hoffen nun, dass die deutsche Übersetzung so gut ankommt, dass wir weitere von Ludovics Werken übersetzen können.“
Gerrit Lungershausen, geboren 1979 als Gerrit Lembke, hat in Kiel Literatur- und Medienwissenschaften studiert und wurde 2016 promoviert. Er hat Bücher über Walter Moers, Actionkino und den Deutschen Buchpreis herausgegeben. 2014 hat er zusammen mit anderen das e-Journal Closure gegründet und ist bis heute Mitherausgeber. Derzeit lebt er in Mainz und schreibt für Comicgate und die Comixene. An der TU Hamburg-Harburg unterrichtet er Comic-Forschung.