Die Welt mit dem Zeichenstift erschließen

Bild aus Meg-John Barkers und Jules Scheeles "Gender. Eine illustrierte Einführung" (Unrast Verlag)

Yuval Noah Harari (Autor), Daniel Casaneve (Zeichner), David Vandermeulen (Szenarist):
„Sapiens. Die Falle“. C. H. Beck, München 2021. 256 Seiten. 25 Euro

Schlüssel zu Sapiens

Vor rund 12.000 Jahren begannen die Menschen, ihr Leben komplett umzukrempeln. Von herumziehenden Sammlern und Jägern verwandelten sie sich in sesshafte Bauern, die mit Weizen experimentierten – gemeinhin bekannt als die landwirtschaftliche Revolution. Wie diese Prozesse die Zivilisation und unser Denken und Handeln bis heute beeinflusst haben, erzählt der Historiker Yuval Noah Harari im zweiten Teil der Comic-Adaption seines Weltbestsellers „Eine kurze Geschichte der Menschheit“.

Wie schon in „Sapiens –Der Aufstieg“, 2020 der meistverkaufte Comic im deutschen Buchhandel, macht sich Harari gemeinsam mit seiner Nichte Zoe auf, die Schlüsselereignisse der menschlichen Entwicklung zu ergründen – samt Gastauftritten von Doctor Fiction, Margaret Thatcher und John Lennon.

Bianca Schaalburg: „Der Duft der Kiefern“.
Avant-Verlag, Berlin 2021. 208 Seiten. 26 Euro

Familiengeschichte im Dunkeln

Wir. Wussten. Von. Nichts. Zu oft hatte Bianca Schaalburg die beschwichtigenden Worte ihrer Oma gehört, als sie als Kind begonnen hat, Fragen zu stellen. Darüber, wie es war, in der Nazizeit zu leben. Welche Aufgabe der Opa eigentlich in Riga hatte, als er dort bei der Wehrmacht stationiert war. Warum er schon 1926 der NSDAP beigetreten war.

Schaalburg, 1968 geborene Berlinerin, beginnt zu recherchieren. Rekonstruiert, was mit den jüdischen Bewohnern passierte, die bis 1936 in dem Haus der Großeltern gelebt hatten. Für ihre erste, eindrucksvoll komponierte Graphic Novel nimmt uns Schaalburg auf eine fast detektivische Zeitreise mit, die tief in die Geschichte einer typischen deutschen Familie führt, über Verdrängung und (Mit-)Täterschaft erzählt – und ein Stück Vergangenheit vor dem Vergessen bewahrt.

Timothy Snyder (Autor), Nora Krug Zeichnerin): „Über Tyrannei“.
C. H. Beck, München 2021. 128 Seiten. 20 Euro

Widerstandslektionen

Von Punkt eins „Leiste keinen vorauseilenden Gehorsam“ bis Punkt 20 „Sei so mutig wie möglich“ reichen Timothy Snyders bereits 2017 veröffentlichte „Zwanzig Lektionen für den Widerstand“. Nun ist die Brandschrift in einer von Nora Klug kongenial illustrierten Neufassung erschienen. In jedem Kapitel katapultiert der Historiker die Leserschaft durch die Geschichte, stellt Verbindungen her von den tyrannischen Regimen der Vergangenheit zu autoritären Zügen der Gegenwart und legt die Mechanismen von Machtmissbrauch offen – samt Handlungsanleitung zum Dagegenhalten.

Klugs Zeichnungen, gespickt mit Collagen, Artefakten und Zeitdokumenten, sind nicht einfach Beiwerk, sondern sprechen eine klare Sprache, die den Text eindringlich ergänzen – und ihm eine weitere umwerfende Dimension geben.

Lara Albanese (Autorin), Tommaso Vidus Rosin (Zeichner): „Atlas des Weltalls“.
Midas Verlag, Zürich 2021. 96 Seiten. 25,90 Euro

Alles über das All

Die unfassbare Unendlichkeit des Sternenhimmels über uns ist von jeher ein Faszinosum. Das aber durchaus greifbar werden kann, wie dieser „Atlas des Weltalls“ zeigt. Der großformatige, optisch imposante Band beginnt damit, was wir mit dem bloßen Auge sehen, verortet uns im Planetensystem und führt schließlich vor, wie wir Menschen den Weltraum erforschen und mit modernen Technologien in den Tiefen des Universums entdecken können. Launige Kurztexte und anschauliche Zusatzinfos liefern eine Menge Wissenswertes, wobei auch die Perspektive anderer Kulturen nicht zu kurz kommt.

Das Buch ist übrigens ebenso wie „Die große Welt der Winzlinge“ und „Alle Welt zu Tisch“ (siehe weiter unten) auf der Short List für das Wissenschaftsbuch des Jahres (Sparte Junior). Das Voting zur Initiative des Wissenschaftsministeriums läuft noch bis 7. 1.
 

Philip Bunting: „Die große Welt der Winzlinge“.
Penguin Junior, München 2021. 40 Seiten. 14,95 Euro

Mikrobenzirkus

Sie kennen Kinder, die nicht genug bekommen können von kaum auszusprechenden Dinosaurierarten? Dann werden sie womöglich auch Freude haben an Winzlingen wie Demodex folliculorum, einer Milbe, die auf Augenlidern lebt, an Tinea pedis, das den Zwischenraum zwischen den Zehen bewohnt, oder an dem kleinen Zombie Pithovirus sibericum. „Das große Buch der kleinen Winzlinge“ bietet aber viel mehr als tabellarisches Wissen. Es verbildlicht, was im Normalfall komplett unsichtbar und doch allgegenwärtig ist: Bakterien, Viren, Pilze und ihre Bedeutung für das Immunsystem und die Umwelt.

Wie schon in „Ich und der Anfang der Welt“ über die Evolution stellt Bunting immer auch eine Relation von der komplexen Welt zum Alltag her. Auch das Coronavirus spielt in diesem bunten Mikrobenzirkus mit – aber nicht die Hauptrolle.

Gustav Schwab: „Griechische Sagen“.
Taschen Verlag, Köln 2021. 336 Seiten. 30 Euro

Antike Superhelden

Sie reiten auf bunt schillernden Drachen und fliegenden Pferden, kämpfen gegen das wurlende Schlangenhaupt der Medusa, bezwingen einen blechernen Riesen, den Minotaurus und allerlei andere überirdische Wesen. Die (Anti-)Helden und (Anti-)Heldinnen der griechischen Mythologie stehen zeitgenössischen Superhelden um nichts nach. Wer den Überblick behalten will über die Geschichten rund um Perseus, Ikarus, Medea, Niobe, Odysseus und Co ist bei diesem Taschen-Band ganz richtig.

Die Texte der 47 Kurzerzählungen stammen aus den berühmten „Sagen des Klassischen Altertums“ von Gustav Schwab (1792–1850) und sind bestechend illustriert von 29 Künstlern und Künstlerinnen aus dem goldenen Zeitalter der Buchillustration sowie des Arts and Crafts Movements. Dazu gibt es einen Stammbaum und ein Glossar.

Meg-John Barker, Jules Scheele: „Gender. Eine illustrierte Einführung“.
Unrast Verlag, Münster 2021. 184 Seiten. 16,80 Euro

Genderdebatte

Was wollen nichtbinäre Menschen? Was bedeutet Intersektionalität? Was ist der Transgender-Wendepunkt? Diese und viele andere Fragen, die aktuelle Kontroversen um Geschlechteridentitäten bewegen, beantwortet der Sachcomic „Gender“, und zwar auf erfrischende Art.

Knappe Texte, die Begrifflichkeiten und gesellschaftliche wie historische Zusammenhänge entwirren, werden mit Schmäh auf den Boden gebracht durch Comic-Illustrationen und -Strips. Dabei übernehmen auch die wichtigsten Theoretikerinnen eine Rolle und helfen, Debatten um Geschlechternormen, Männlich- und Weiblichkeiten einzuordnen. Eine erhellende Fortsetzung des Comicbands „Queer“, der die Entstehung von Queer-Theorie und LGBTQ*-Aktivismus nachzeichnet.
 
 

Aleksandra Mizielinscy, Daniel Mizielinscy, Natalia Baranowska: „Alle Welt zu Tisch“.
Moritz Verlag, Frankfurt 2021. 112 Seiten. 29 Euro

Das große Fressen

Die Guaraná-Früchte aus dem Amazonasdelta enthalten nicht nur viel Koffein, sie sehen auch aus wie tote Augen, die aus dem Dschungel lugen – was untermauert wird durch eine gruselige Legende. Im antiken Griechenland durften bei keinem Gelage mit Sylphium gewürzte Speisen fehlen, eine Pflanze die durch Klimawandel und ausgelaugte Böden schon vor rund 2000 Jahren ausgestorben ist. Das Sojaprodukt Tempeh wird seit Jahrtausenden hergestellt, wirkt aber dennoch wie Science-Fiction-Kost.

Diese drei wahllos herausgepickten Facts können nur einen kleinen Schimmer davon geben, welch reichhaltiges Wissen sich in diesem üppig illustrierten, großformatigen Band drängt – über Essen, Lebensmittel, kulinarische Kulturen und Kuriositäten, Gewürze, Kräuter und allem was dazu gehört. Ähnlich wie in dem wunderschönen Landkartenbuch „Alle Welt“ verliert man sich im positivsten Sinn in den von oben bis unten vollgepackten Seiten, die diesmal in 26 Länder auf fünf Kontinenten führen, inklusive zwei Rezepte pro Land. Da kann man auch gut darüber hinwegsehen, dass die österreichische Küche keine Erwähnung findet. Ein Augenschmaus!

Fleur Daugey (Autorin, Stéphane Kiehl (Zeichner): „30 Tage auf Grönland“.
Karl Rauch, Vogt 2021. 72 Seiten. 18 Euro

Gespür für Grönland

Iloq: Eis, das sich auf der Fensterbank ansammelt. Mangertaq: fester Schnee. Aakkarneq: von Rinnsalen durchzogenes Eis. Das sind nur drei von tatsächlich 168 Wörtern für Eis und Schnee im Grönländischen. Die Autorin und Ethologin Fleur Daugey gibt in ihrem Reisecomic „30 Tage auf Grönland“ ungewöhnliche Einblicke in das Leben und die Kultur der Inuit. Dabei wird unter anderem beantwortet, wie man am schnellsten ohne Hände zwei gekreuzte Stockfische essen kann, wie Schlittenhunde ein Navigationssystem aus Kacke entwickelt haben und wozu Iglus früher wirklich gut waren.

Mit einem liebevollen Gespür für Details und schneeflockiger Leichtigkeit vermittelt das Buch eine ganze Menge arktisches Wissen: vom Polarfuchs über Wollgras bis zu Nordlichtern und Eisbergen.

Dieser Beitrag erschien zuerst am 20.12.2021 auf dem Standard-Comicblog Pictotop.

Karin Krichmayr arbeitet als Wissenschaftsredakteurin für Der Standard. Außerdem betreibt sie für die österreichische Tageszeitung den Comicblog Pictotop.