„Es gibt keinen Ausgang“ – Kevin O’Neills und Alan Moores „Cinema Purgatorio“

Philologen kennen die Hamburger Ausgabe von Goethes Werken, die Weimarer Ausgabe, die Münchner Ausgabe, die Berliner Ausgabe und so weiter. Die Literaturverlage haben darum gewetteifert, die kanonisierten Autoren in ausführlich kommentierten Ausgaben zu präsentieren, und die Editionen wurden nach den Verlagssitzen benannt. Der Mannheimer Dantes Verlags hat seine kommentierte Ausgabe von Alan Moores und Kevin O’Neills „Cinema Purgatorio“ abgeschlossen. Die „Mannheimer Ausgabe“. Ausgerechnet mit dem Band, den Alan Moore mit Kevin O’Neill gemeinsam schuf, und dieser Kevin O’Neill ist am 3. November 2022 verstorben.

Der britische Comiczeichner Kevin O’Neill (1953-2022) ist seit den 1970er Jahren für verschiedene Magazine und Verlage tätig gewesen und fand in Pat Mills einen Autor, an dessen Seite er für „2000AD“ seine ersten längeren Erzählungen umsetzte, darunter „Nemesis, the Warlock“ (1980-87) und die Superhelden-Parodie „Marshal Law“ (1987-92). Seine grotesken und drastischen Zeichnungen fielen schon immer aus dem Rahmen und prägen den Stil seiner Serien.

Noch mehr als für seine sehenswerten und wilden „2000AD“-Arbeiten ist Kevin O’Neill für seine langjährige Zusammenarbeit mit Alan Moore an „The League of the Extraordinary Gentlemen“ (1999-2019) bekannt. Alan Moore bezeichnete die Variabilität von dessen Artwork als eine der großen Stärken der Serie. Und diese ist zeichnerisch wie stilistisch auch viel dichter am „Cinema Purgatorio“ als seine anderen Arbeiten, nicht zuletzt durch die zahlreichen kulturellen Anspielungen und Wortspiele beider Comics.

„Cinema Purgatorio“ begann 2016 als Crowdfunding-Projekt auf Kickstarter. 1.621 Unterstützer*innen trugen mit 110.333 US Dollar dazu bei, dass „Cinema Purgatorio“ bei Avatar Press gedruckt werden konnte. Die Idee geht auf die Zielsetzung zurück, eine Horror-Anthologie in Schwarzweiß zu betreuen. Der Mannheimer Dantes Verlag hat die fünf Geschichten („Code Pru“, „The Vast“, „A More Perfect Union“, „Modded“, „Cinema Purgatorio“) nun in Einzelbänden veröffentlicht. 2016 bis 2019 erschienen 18 Ausgaben der Anthologie, und mit der Titelserie schließt Dantes das Projekt nun ab.

© Dantes Verlag

In ihrer eigenen Story folgen Moore und O’Neill einem wiederkehrenden Muster: Sie zeigen eine Frau, die an der Kinokasse eine Karte kauft, den Kino-Direktor begrüßt und sich von einer Platzanweiserin zu ihrem Sitz begleiten lässt. In jeder Episode sehen wir nun, gemeinsam mit ihr, einen (fiktiven) Film, der uns durch die frühen Jahre der Kinogeschichte führt: Wir staunen über eine mit filmhistorischen Anekdoten gespickte Revue von Superheldenfilmen, Screwball Comedies und Slapstickfilmen, Horror und film noir. Während einige Episoden auch relativ gut ohne den Kommentar auskommen (wie das furiose Kapitel über die Schauspieler in einem Historienfilm, die aus der Rolle fallen), bleiben andere Kapitel dieses Meta-Medien-Comics rätselhaft, bis man die Kommentare des Übersetzers Jens R. Nielsen zur Kenntnis genommen hat.

Die Annotationen erstrecken sich von Übersetzungen über die Entschlüsselung von Anspielungen bis hin zu Querverweisen und humorvollen Anmerkungen: „Achtung: Es wird dringend davon abgeraten, sich bei Flüssigkeit in der Lunge in die Brust zu schießen! Das ist keine gesundheitlichen Erfolg versprechende Methode! Don’t try this at home!“ Manches Mal nimmt die Annotationslust auch ausufernde Züge an, wenn der Kommentar acht oder zehn eng bedruckte Buchseiten umfasst und damit ebenso viele Seiten wie das Kapitel selbst. Die Kommentare entfalten einen ganz eigenen Leseanreiz. Im sechsten Kapitel etwa, in dem es um die Marx Brothers geht, ist dieser sogar höher als derjenige des in seinen Anspielungen sich verlierenden Comics selbst. Moore und O’Neill treiben ihre postmoderne Pastichetechnik hier auf die Spitze, oft zulasten der Lesbarkeit. Der Kommentar von Jens R. Nielsen legt die Herausforderung der Übersetzung der Wortspiele offen und leistet damit, was die wenigsten Übersetzungen machen.

Auf diese Weise entsteht ein Kommentar, der Original und Übersetzung nicht gleichermaßen zugänglich macht, sich aber um größtmögliche Transparenz bemüht. Zudem kann der Transfer des britischen Originals nur im Ansatz gelingen, wenn die Wortspiele, deren Übertragung eben nicht möglich ist, im Kommentar erläutert werden. Diesem Comic eine solche editorische Sorgfalt zu widmen, ist ein Kniefall vor dem Werk Alan Moores und Kevin O’Neills. Goethe hat seine Hamburger Ausgabe. Moore und der kürzlich verstorbene O’Neill haben nun ihr Mannheimer Pendant.

„Es gibt keinen Ausgang“ – so lassen die beiden ihre Zusammenarbeit enden, aber in der rechten unteren Ecke des letzten Panels hat O’Neill doch den „EXIT“ des Kinosaals gezeichnet. Nun ist er fort.

Gerrit Lungershausen, geboren 1979 als Gerrit Lembke, hat in Kiel Literatur- und Medienwissenschaften studiert und wurde 2016 promoviert. Er hat Bücher über Walter Moers, Actionkino und den Deutschen Buchpreis herausgegeben. 2014 hat er zusammen mit anderen das e-Journal Closure gegründet und ist bis heute Mitherausgeber. Derzeit lebt er in Mainz und schreibt für Comicgate und die Comixene. An der TU Hamburg-Harburg unterrichtet er Comic-Forschung.

Alan Moore (Autor) und Kevin O’Neill (Zeichner): „Cinema Purgatorio“. Übersetzt und kommentiert von Jens R. Nielsen. Dantes Verlag, Mannheim 2022. 256 Seiten. 30 Euro