Eine Insel und viele Rätsel

Nach „Gideon Falls“ eröffnen Jeff Lemire und Andrea Sorrentino mit dem Horror-Kammerspiel „Die Passage“ ihren „Bone Orchard Mythos“.

Irgendwo an der Küste Kanadas liegt eine vorgelagerte, kleine, wellenumtoste Felseninsel mit einem Haus und einem Leuchtturm. Und einem großen Loch. Das vorher nicht da war. Deshalb wird der junge Geologe John Reed zur Insel geschickt, um das das plötzlich entstandene Phänomen zu begutachten. Er soll herausfinden, worum es sich handelt und eventuelle Auswirkungen auf die Statik der Gebäude untersuchen. Empfangen wird er von der knorrigen Leuchtturmwärterin Sally „Sal“ Yandle, die seit 25 Jahren auf der Mini-Insel lebt. Das einige Meter breite kreisrunde Loch scheint tiefer als gedacht, ein Grund ist weder zu sehen noch zu hören. Daher untersucht John das Loch mit einer Kameradrohne, womit ein Unheil seinen Lauf nimmt und sich John auch noch einem nicht bewältigten Kindheitstrauma stellen muss…

So in etwa lässt sich der Plot bzw. die Exposition beschreiben. Natürlich kommt noch viel mehr. Nicht nur in diesem Band. Tatsächlich ist „Die Passage“ der Auftakt einer Reihe von Graphic Novels und Miniserien, die Autor Jeff Lemire („Black Hammer“) und Zeichner Andrea Sorrentino unter der Titel „The Bone Orchard Mythos“ zusammenfassen. Darunter verstehen die beiden, die sich spätestens seit „Gideon Falls“ einen Namen im Genre des Horror-Comics gemacht haben, ein hermetisches Comicuniversum, in dem die einzelnen Titel angesiedelt und miteinander verknüpft sind, gleichzeitig aber auch ohne eine bestimmte Reihenfolge gelesen werden können. Der nächste Band, der im Oktober erscheint, trägt den Titel „Zehntausend schwarze Federn“, und wer genau hinsieht, kann in „Die Passage“ bereits einen Hinweis darauf finden.

Der Band ist als ein Dreipersonenstück relativ schnell gelesen. Kennt man die vorherigen Arbeiten des Duos, weiß man aber, dass die visuelle Präsentation der Story ebenso viel zählt wie Text und Szenario. Tatsächlich „wütet“ Sorrentino hier noch einiges abstrakter als beispielsweise bei „Gideon Falls“. Ab einem bestimmten Punkt erschließt sich die albtraumhafte Story mit ihren lovecraftschen, fast apokalyptischen Szenerien nur deutungsweise und bietet damit reichlich Raum für Interpretationen. Das Paneldesign und die Seitenaufteilung strotzen einmal mehr vor originellen Ideen und visualisieren immer wieder dräuendes Unheil. Auch in den Rückblenden, die stilistisch noch abstrakter und diffuser gehalten sind, geraten die Bilder zu einer optischen Tour de Force. Wer hier (bereits) Erklärungen erwartet, ist schief gewickelt. Neugierig auf mehr macht der Band aber allemal. Und das sind wir von Lemire und Sorrentino ja schon fast gewohnt.

Dieser Text erschien zuerst auf: Comicleser.de

Jeff Lemire (Autor), Andrea Sorrentino (Zeichner): Die Passage • Aus dem Englischen von Bernd Kronsbein • Splitter Verlag, Bielefeld 2023 • 96 Seiten • Hardcover • 19,80 Euro

Bernd Weigand ist schon über vier Jahrzehnte in Sachen Comics unterwegs: lesen, sammeln, übersetzen. Schreibt auch seit 20 Jahren über Comics, seit 2010 auf comicleser.de.