Archivar der Gegenkultur

Leere Heroinpäckchen mit den Logos der Gangs, Demo-Transparente, Flyer, Fotos und Videos. Eine Comic-Anthologie erzählt, wie sich der 75jährige Sammler und Fotograf Clayton Patterson vom schlechten Ende der Arbeiterklasse an die Lower East Side ­vorgearbeitet hat.

„Jeder weiß, dass Mr. Patterson der Bürgermeister der Lower East Side ist“, scherzte Boris Lurie einmal über seinen in New York lebenden Künstlerfreund Clayton Patterson. Nicht als Bürgermeister, sondern als „Pate der Lower East Side“ sieht ihn der Comic-Künstler Julian Voloj. In seiner gleichnamigen Graphic-Novel-Biografie erzählt er die Geschichte des 1948 in Kanada geborenen Malers, Fotografen, Dokumentaristen, Archivars, Geschäftsmanns und Akti­visten, der 1979 pünktlich zur Hochzeit des Punk nach New York gezogen ist.

Der in Münster geborene Julian Voloj lebt seit 20 Jahren als Fotograf und Journalist in New York und hat sich als Szenarist zahlreicher Comics mit der Geschichte der Stadt und ihrer Bewohner beschäftigt. Dabei sind es vor allem die Außenseiter und Randfiguren, Pioniere und Vergessenen, die ihn interessieren. In „Joe Shuster. Der Vater der Superhelden“ ist es der Erfinder von Superman, „Basquiat“ ist dem 1988 verstorbenen afroamerikanischen Künstler Jean-Michel Basquiat gewidmet, in „Ghetto Brother“ geht es um Benjamin Melendez, Sohn jüdischer Einwanderer aus Puerto Rico, der Anfang der siebziger Jahre als Anführer einer Gang in der Bronx von sich reden machte.

Clayton Patterson fügt sich in ­diese Reihe ein. Außerhalb der Stadt wenig bekannt, ist er in New York und insbesondere in der dortigen Sub- und Gegenkultur eine geschätzte Persönlichkeit. Nicht wenige seiner Freunde brachten es zu Weltruhm, zum Beispiel sein Nachbar Keith ­Haring oder Ai Weiwei, den er während der Tompkins Square Park ­Riots kennenlernte. Auch Voloj gehört zu seinen Freunden.

Volojs Anspruch war es, den zahlreichen Facetten der bewegten Biografie des 75jährigen eine ästhetische Entsprechung zu geben, deshalb hat er sehr unterschiedliche Comiczeichner:innen gebeten, jeweils eine Episode aus Claytons Leben zu erzählen. Die Rahmenhandlung bildet ein im Stil des Fotorealismus erzählter Besuch einer Journalistin im Privatmuseum des Meisters. In seiner mit Erinnerungen und Fundstücken vollgestopften Ladengalerie befragt sie Patterson ausgiebig. In Rückblenden erzählen die Zeichner:innen Nancy Calef, Natania Nunubiznez, Dov Smiley, Sasha Kimiatek seine ­Lebensgeschichte und zugleich die der der Lower East Side in den vergangenen 30 Jahren.

Bekannte Namen sind nicht unter den Comiczeichner:innen, wichtiger war Voloj, dass sie einen Bezug zur Stadt New York haben; ihr stets in Schwarzweiß gehaltener Stil reicht von – überwiegend – am Underground-Comic orientierten Zeichnungen bis hin zu Collagen oder an der Ligne claire geschulten Entwürfen. Summer Rose McClinton, die bereits mit Harvey Pekar zusammengearbeitet hat, dürfte zu den Bekannteren unter ihnen gehören, für andere wie Meagan Dolan, Musikerin in mehreren Punkbands, ist es der erste Comic. Jeder der jeweils nur wenige Seiten umfassenden Comicstrips nimmt sich eine von Clayton Patterson im Interview erinnerte Episode vor und verknüpft so die biografischen Fragmente zu einer ­kohärenten Lebensgeschichte.

Pattersons Leben ist in der Tat faszinierend: Aus ärmlichen Verhältnissen in Kanada stammend, schaffte er den Sprung auf eine Kunsthochschule, wurde Kunstlehrer und zog schließlich nach New York. Er entstamme dem „schlechten Ende der Arbeiterklasse“, so Patterson in einem Interview mit dem New Yorker. Mit 15 Jahren lief er von zu Hause fort und schlug sich alleine durch. „Im Prinzip verdanke ich meinem Vater, wie ich heute bin. Von zu Hause abzuhauen zeigte mir, dass ich es allein schaffen kann. Meine alten Klassenkameraden wurden Elektriker, LKW-Fahrer und dergleichen. Ich wusste, dass da mehr im Leben ist“, fasst er im Comicbeitrag von Natania Nunubiznez diese Erfahrung zusammen.

Zunächst absolvierte er ein Studium am Alberta College of Art and Design. „Es war meine erste Integration in die Mittelklasse“, kommentiert er scherzhaft. Viel wichtiger sollte jedoch eine Begegnung werden, die ebenfalls in diese Zeit fiel: Er lernt die Kunststudentin Elsa Rensaa kennen. „Das war 1972 und wir sind seitdem unzertrennlich“, so Patterson. Gemeinsam schrieben sie sich am Nova Scotia College of Art and Design ein, wo in den Siebzigern Künstler wie Sol LeWitt, Joseph Beuys oder Claes Oldenburg lehrten.

1979 ging das Paar gemeinsam nach New York. Hier begann Pattersons Arbeit an seinem Hauptwerk: eine Dokumentation der Lower East Side in all ihren Facetten. Mit einer Pentax-Kamera streifte er durch die Stadt, fotografierte Sexarbeiterinnen, Punks, Gangster und Obdachlose, Drag-Shows und Punkkonzerte im „Pyramid Club“ und im „CBGB“. Er archivierte leere Heroinpäckchen mit den Logos der unterschiedlichen Straßengangs, Demo-Transparente, Flyer sowie Kunst ansässiger Künstler und sammelte eine halbe Million Fotos und Tausende Stunden an Video­­material. All dies befindet sich in seiner Galerie in der Essex Street, wo er 1983 mit seiner Lebensgefährtin ein heruntergekommenes Haus kaufen konnte, in dem die beiden bis heute leben, aller Gentrifizierung der Gegend zum Trotz.

Um sich zu finanzieren, entwarfen die beiden ab Mitte der Achtziger Baseballmützen, die sogenannten Clayton Hats, deren Popularität ihnen ein ökonomisch unabhängiges Leben sicherte. Jeder wollte den Clayton Hat tragen – von Mick Jagger bis zu den Pet Shop Boys. In den Räumen fanden Ausstellungen von Künstlern wie Genesis P-Orridge oder Quentin Crisp statt, darüber hinaus begann er Kunst von New Yorker Underground-Künstlern zu sammeln.

Patterson mochte die Kunstwelt nicht, sein Interesse galt den Menschen, die in der Lower East Side leben und oft aus ihr verdrängt wurden. „Ich habe Bilder von Menschen, die sonst niemand hat“, sagte er in einem Interview. „Vielleicht hat es gebrannt, vielleicht haben sie ihr Haus verloren, vielleicht sind sie obdachlos geworden und alles ist ver­lorengegangen.“ Seine Fotos dokumentieren die Verdrängung und die Veränderungen im Viertel.

Eher zufällig wurde er zum poli­tischen Aktivisten gegen die Gentrifizierung. Während er 1988 im „Pyramid Club“ ein Konzert filmte, eskalierte in unmittelbarer Nähe im Tompkins Square Park die seit Tagen angespannte Situation zwischen der Polizei und De­mons­trant:in­nen. „Haus­be­setzer:in­nen hatten Gebäude rund um den Park besetzt. Das System hatte sie im Stich gelassen, doch nun brachten die Menschen ihr Leben wieder unter Kontrolle, ganz ohne Hilfe vom Staat“, erzählt Patterson in der von Summer Rose McClinton gezeichneten Episode die Ausgangssituation.

Patterson dokumentierte die Polizeigewalt gegen die Demonstranten, Rensaa schmuggelte die Bänder aus dem Park. Das Filmmaterial schaffte es bis in die Nachrichten, Patterson bekam in der Folge immer wieder Probleme mit der Polizei. In einem Interview bemerkte er zu seiner Rolle als Outlaw: „Die Leute sehen in mir einen Unruhestifter, einen Asozialen, einen Regierungsgegner – sie sehen in mir einen Anarchisten, aber das bin ich nicht. Ich bin ein Künstler.“

1986 gründete er gemeinsam mit Ari Roussimoff die Tattoo Society. „Damals waren Tattoos illegal“, erklärt Patterson im Comicbeitrag von Chris M. Wilson. „Es war eine Kunstform außerhalb gesellschaftlicher Normen. 1961 hatte der Stadtrat ein Gesetz verabschiedet, das es verbot, in New York zu tätowieren.“ Gemeinsam mit Roussimoff und später auch mit seiner Lebensgefährtin Rensaa engagierte er sich für die Legalisierung des Tätowierens und erreichte durch Lobbyarbeit, dass der New Yorker Stadtrat das Verbot 1997 aufhob.

Die Comic-Anthologie streift seine Freundschaft mit Boris Lurie und sein Engagement in der NO!art-Bewegung, zeigt den Respekt, den ihm ehemalige Mitglieder von Straßengangs bis heute entgegenbringen und betont seine Bedeutung für die österreichische Tattoo-Szene. Einige der Themen können in den Beiträgen nur kurz angerissen werden, und wie es Anthologien eigen ist, gelingt es manchen Zeichner:innen besser, das Faszinosum Clayton Patterson zu vermitteln, während andere etwas blasser bleiben. Insbesondere der rahmende Fotocomic versäumt es, die Neugier Claytons für seine Umwelt zu erfassen. Die Interviewsituation, in der eine ihn bewundernde junge Reporterin Fragen stellt, wird seiner unprätentiösen Persönlichkeit nicht wirklich gerecht. Unbeschadet dessen ist mit „Clayton. Der Pate der Lower East Side“ ein beeindruckendes Porträt dieses bemerkenswerten Künstlers gelungen.

Dieser Beitrag erschien zuerst in: Jungle World 42/2023

Julian Voloj (Hg.): Clayton. Der Pate der ­Lower East Side • Golden Press, Bremen 2023 • 112 Seiten • Hardcover • 28,00 Euro

Jonas Engelmann ist studierter Literaturwissenschaftler, ungelernter Lektor und freier Journalist. Er hat über „Gesellschaftsbilder im Comic“ promoviert, schreibt über Filme, Musik, Literatur, Feminismus, jüdische Identität und Luftmenschen für Jungle World, Konkret, Zonic, Missy Magazine und andere, ist Mitinhaber des Ventil Verlags und Co-Herausgeber des testcard-Magazins. Zuletzt ist von ihm die Textsammlung „Nach Strich und Rahmen“ erschienen.