Kunstfreiheit, Gruppenexperimente und Weltraumkolonien

Luz lässt uns als Otto Muellers Gemälde „Zwei weibliche Halbakte“ auf die Nazis blicken, James Tynion IV setzt seine preisgekrönte Invasionsstory „Das Haus am See“ fort, Guillaume Singelin hat mit „Frontier“ den vielleicht besten SF-Comic des Jahres vorgelegt. Eindrucksvolle, liebenswerte, diskutable Phantastik-Comics der letzten Monate.

Guillaume Singelin: Frontier

Wofür Punk nicht alles instrumentalisiert wird. Im sogenannten Hope Punk soll ausgerechnet die einzige Subkultur, die die Schweinereien des Kapitalismus nicht eskapistisch aus den Birnen tanzen wollte, nun als Botschafterin herhalten, dass mit der Menschheit noch mal alles gutgehen wird. Das Endstadium des Kapitalismus vor dem Zeitalter der Rackets zeigt sich womöglich auch hierin, in posmodernistischen Nebelkerzen und Saussures Verabschiedung: Die Zeichen erhalten ihren Sinn nicht mehr auf arbiträrem Wege, sie haben überhaupt keine Bedeutung mehr. Eine dergestalt verminte Gesellschaft der Zukunft hat Geoff Darrow in „Hard Boiled“ mal sarkastisch skizziert: Menschen mit Friedenszeichen und aus jeder denkbaren Lebenswelt tranchieren sich als Gladiatorenkasper mit Kettensägen in TV-Arenen, und allen gefällt’s. Guillaume Singelins Meisterwerk „Frontier“ hütet sich zwar vor solcher Drastik. Aber ist es deswegen Hope Punk, wie es im französischen Fandom diskutiert wird?

Trotz bahnbrechender technologischer Fortschritte ist die Menschheit nur einen Schritt von der Apokalypse entfernt: Die Erde ist unbewohnbar, der Kapitalismus hat sich auf allerlei Planeten jenseits des Sonnensystems verlagert. Die Planeten sind Kolonien gigantischer konkurrierender Konzerne, der Weltraum ist eine lebensgefährliche Müllhalde, und die Menschen arbeiten sich auf beengtem Raum den Wolf. Drei Protagonisten – die desillusionierte Ingenieurin Ji-Soo, der pragmatische Arbeiter Alex und die schlagfertige Ex-Söldnerin Camina –, deren Wege sich zufällig kreuzen, werden mehr oder minder zum Ausbruch genötigt. Man soll sie durchaus und recht stereotyp als Klassenrepräsentanten lesen, impulsiv und naiv mal der eine, jovial und egozentrisch dann die andere, suchen sie alle nach dem richtigen Modell für den Ausstieg. „Frontier“ plättet nicht mit Schockbildern, sondern führt die Verhältnisse beiläufig mittels Bildern des Alltags, Gesprächen und den Erwerbsarbeiten selbst vor.

Und damit geht die Story nicht haushälterisch um. Wenn beispielsweise die Söldnerin Camina auf eine Wohnwagenkarawane ehemaliger Arbeiter trifft und sich vom nomadischen Lebensentwurf fasziniert zeigt, funktioniert diese Szene als utopistischer Lichtschein nur unter Ausblendung der Psychologisierung Caminas als lebenslange Kämpferin, die gelernt hat, sich illusionslos noch den widrigsten Bedingungen anzupassen. Bedroht ist die Gruppe trotzdem. Und so sind alle Ausbruchsversuche, guten Wendungen und Pläne , die der Plot zu bieten hat, nur scheinbare, trügerische Refugien: so lange, bis die Unternehmen auch diese Orte als Ressource entdecken. Singelin gibt seinen Protagonisten nur einen kurzen Moment zum Durchatmen. Sollte das schon zur Hoffnung gereichen, taugt Hope Punk nicht mal zur Genre gewordenen Triggerwarnung.

Guillaume Singelin: Frontier • Splitter Verlag, Bielefeld 2025 • Hardcover • 200 Seiten • 39, 80 Euro

Luz: Zwei weibliche Halbakte

Der Clou an Luz‘ neuer Graphic Novel ist die Erzählperspektive: Wir sehen die Welt aus der Subjektiven von Otto Muellers expressionistischem Gemälde „Zwei weibliche Halbakte“ – wenn sich zu Beginn auf weißen Seiten aus den ersten Farbklecksen langsam eine Figur herausschält, erscheint nicht das Bild, wie es der „unsichtbare“ gleichzeitige Dialog zwischen Maler und Modell erwarten lässt, sondern Muellers skeptisches Gesicht. Die Kadrierung ist also stets dieselbe. Das erinnert an James Bennings Methode in seinen Dokumentarfilmen: Minutenlange Einstellungen ohne Schnitt und Kommentar, ein ruhender Blick in die Landschaft, auf Seen, in den Himmel. Das schärft das Sehen und lenkt die Aufmerksamkeit auf die geringsten Veränderungen. Bei Luz ist das eine ganze Menge. 1919 entstanden, verfolgen wir alle Stationen des Gemäldes, das in der NS-Ausstellung „Entartete Kunst“ gezeigt wurde und sich heute im Museum Ludwig in Köln befindet. Der Zeitrahmen entspannt sich also von der Weimarer Republik bis zur Gegenwart; wir sehen Ateliers, Wohnzimmer, Büros, Museumsräume, Abstellkammern, Depots und was sich darin abspielt. Luz, der das islamistische Attentat auf Charlie Hebdo nur aus Zufall überlebte, zeigt ein grauenvolles Gesellschaftspanorama als geniales Kammerspiel. Es geht um die Freiheit der Kunst, auch der unpolitischen und kontemplativen, ihre Gefährdung durch die Nazis und ihrer Propaganda, deren Widerwärtigkeit Luz sardonisch vorführt. Sogar der Gröfaz starrt uns an.

Wie sich die Verrohung steigert und der Barbarei den Weg bereitet, wird nicht nur über den Dialog gelöst. Der intensivste, verstörendste Abschnitt ist die Passage im Büro des jüdischen Breslauer Anwalts und Kunstsammlers Ismar Littmann, der mit Mueller befreundet war und ihm neben den „Halbakten“ ein weiteres Gemälde und 128 Grafiken abkaufte. Aus dem Fenster seines Büros blickt man auf das Nachbargebäude eines jüdischen Händlers auf der gegenüberliegenden Straßenseite und sieht besoffenene Schupos Hakenkreuze an die Wand pissen, danach folgen Propagandaplakate, später wird der draußen sitzende Händler beschimpft und verhöhnt, kurz darauf schließlich brutal verprügelt. Im Vordergrund, in Littmanns Büro, spielt sich parallel dessen sukzessive Entrechtung ab: Erst bleiben immer mehr Klienten fern, dann verliert er seine Zulassung und politischen Rechte und ist am Ende so verzweifelt, dass er, dem nur noch seine Sammlung geblieben ist, am Schreibtisch Suizid begeht. „Zwei weibliche Halbakte“ dokumentiert den Kulturkampf der Nazis und verliert die Gegenwart nie aus den Augen.

Luz: Zwei weibliche Halbakte • Reprodukt, Berlin 2025 • Hardcover • 192 Seiten • 39,00 Euro

James Tynion IV, Álvaro Martines Bueno: Das Haus am Meer Bd. 1

„Das Haus am Meer“ ist der zweite Zyklus der zweibändigen DC-Black-Label-Serie „Das Haus am See“. Diese Invasionsgeschichte gehörte zu den originellsten Comics, die 2022/2023 im Phantastik-Sektor erschienen sind. Anfang 2024 wurde sie sogar auf dem Comicfestival in Angoulême als beste Serie prämiert, was in der Geschichte des Preises durchaus bemerkenswert ist. Die Konstellation des Vorgängers wird in der Fortsetzung erneut durchgepaust: Wieder sind zehn Menschen in einem luxuriösen Anwesen untergebracht, weil sie von außerirdischen Invasoren als würdig erachtet wurden, die Vernichtung der Menschheit zu überleben, sofern sie sich beweisen können. Diesmal sind sich alle fremd, und auch ihre Beobachterin Max spielt mit offenen Karten und scheint das soziale Experiment analytischer anzugehen als der von seinen Emotionen (scheinbar?) überwältigte Walter aus „Das Haus am See“. Da die Frage, was hier überhaupt vor sich geht, im ersten Teil zumindest halbwegs geklärt wurde, konzentriert sich das Sequel noch mehr auf soziologische Aspekte. Denn die Protagonisten aus Walters Gruppe treten mit den Neulingen dieses Bandes in Verbindung, und das ist der Auftakt zu einem ausufernden Identitäts- und Intrigenspiel, das sich aus der Unkenntnis der Gruppen, welche Ziele ihre Besatzer tatsächlich verfolgen mögen, entspinnt, niemand also vollends weiß, welche Rolle sowohl in der eigenen als auch der vermeintlich feindlichen Fremdgruppe von ihm oder ihr erwartet wird. Dass sich die Zahl der Figuren schlagartig verdoppelt hat, macht die Übersicht nicht kommoder, auch der Gesprächsbedarf nimmt nicht ab. Aber weiterhin ist es faszinierend mitanzusehen, wie weit und inwiefern die Conditio humana an ihre Grenzen gebracht wird. Man sollte allerdings die Bereitschaft aufbringen, dass an einer Story, deren Eleganz und unheimlicher Sog den bewussten Leerstellen und offenen Fragen des Plots geschuldet war, nun doch der Winkelmesser angelegt wird.

James Tynion IV, Álvaro Martines Bueno: Das Haus am Meer Band 1 • Panini, Stuttgart 2025 • 208 Seiten • Softcover • 29,00 Euro

Jean Zeid, Émilie Rouge: Gaming. Eine Pixel-Zeitreise

Einen Sachcomic über die Geschichte der Videospiele zu illustrieren, ist eine dankbarere Aufgabe, als beispielsweise die Ästhetik der Tonkunst ins Bild zu setzen. Der Fundus ist beim ökonomisch erfolgreichsten visuellen Medium der Gegenwart ja unerschöpflich. Der französische Videospielexperte Jean Zeid und die Comiczeichnerin Émilie Rouge eignen sich die Spielmechanismen ihres Gegenstands an und zappen sich mithilfe einer Zauberkanone zu den verschiedenen Stationen der Zeitleiste – er doziert, sie interveniert, sobald er ins Schwafeln gerät. An ihrer Seite ist außerdem ein fliegender Handheld, der brav und meistens ungefragt alle Termini, die dabei so fallen, für Laien erläutert. Das ist die erzählerische Grundlage, wobei man sich die Freiheit nimmt, gelegentlich in der Chronologie zu switchen, um parallele Entwicklungen und Konzepte anschaulicher zu paraphrasieren. Inhaltlich ist es natürlich trotzdem oftmals eine Abfolge erster Male und Ereignisse: der erste Computer, der erste Spielautomat, das erste Pad, die erste Konsole, das erste 8Bit-Gerät, das erste 3D-Spiel usw. – unvermeidlich, weil die ästhetische Entwicklung ständig an die technische gebunden ist. Da sich Zeid und Rouge selbst zu Protagonisten erheben, wird dieser Lehrgang aber durch die Szenarien aufgelockert, etwa wenn sie unversehens auf dem Wüstenplaneten landen und vor Sandwürmern fliehen müssen (auch wenn dies grafisch nicht aufwendig, sondern mit pragmatischen Mitteln umgesetzt wird). Erfreulich ist auch der konstante Fokus auf weibliche Akteurinnen der Branche, auf Programmiererinnen, Game-Designerinnen, Komponistinnen, die historisch an vielen Schnittstellen beteiligt waren, in vielen Grundlagenwerken aber weiterhin unterschlagen werden. Und ebenfalls eine Seltenheit in Sachcomics: das Stichwortverzeichnis.

Jean Zeid, Émilie Rouge: Gaming. Eine Pixel-Zeitreise • Carlsen, Hamburg 2025 • 240 Seiten • Hardcover • 25,00 Euro

Dan Jurgens, Jackson Guice u. a.: Der Tod von Superman

Es war der wahrscheinlich größte Medienhype, den eine Superhelden-Storyline jemals erzeugen konnte: Mit Supermans Tod versuchte DC Comics 1992/1993 die sich immer schneller lichtenden Reihen der Fanboys, die sich den jungen Wilden bei Image zuwandten, mit einem Schock wieder zurück ins Boot zu holen. In den 90ern sollte sich DC an mehreren Events dieser Art versuchen, dieser blieb der massentauglichste: Die Tageszeitungen und TV-Sender berichteten konstant, Jay Leno riss über Wochen Witze in seiner Late Night Show und trug ein Trauerarmband, und selbst Bill Clinton äußerte sich betrübt, dass der Beginn seiner Amtszeit von diesem Ereignis überschattet würde (man dankte es ihm später, indem man ihn und Hillary in „Superman: The Man of Steel“ auf Supermans Beerdigung eine Rede halten ließ). Es war nicht der erste Tod Supermans, aber der ertragreichste: Zwischen fünf und sechs Millionen verkaufte Hefte werden kolportiert. Inhaltlich wird nicht mehr als ein Godzilla-Durchmarsch ohne Gummianzug-Charme geboten. Der seinerzeit noch völlig geschichtslose Doomsday prügelt sich sieben Hefte lang durchs Land bis nach Metropolis, lässt dabei die C-Akteure der Justice League hinter sich und gibt in der letzten Issue, die nur noch – reinster Pathos-Zinnober – aus Splahpages besteht, zusammen mit Superman den Löffel ab. Zwischendurch kommt ein mürrischer Grunge-Klon auf einem 70er-Skateboard in unmöglicher Haltung von der Schule ins verkrachte Zuhause zur alleinerziehenden Mutter gerollt und beschwert sich, dass wieder mal nicht gekocht wurde („Kein Wunder, dass Dad sich scheiden lassen will.“ Schicksal Baby-Boomer-Ableger!). Zur Strafe prügelt sich die halbe Justice League samt Superman mit Doomsday durch die Neubausiedlungs-Bretterbude, und ich bin sicher, dass sich dieser undankbare Gen-X-Lümmel danach eine anständige Arbeit gesucht hat.

Dan Jurgens, Jackson Guice u. a.: Der Tod von Superman • Panini, Stuttgart 2025 • 184 Seiten • Softcover • 25,00 Euro

Karla Paloma: Ratten

Karla Paloma, eine in Berlin lebende dänische Comiczeichnerin, hat mit „Ratten“ den Süchtigmacher des Quartals vorgelegt. Drei Kurzgeschichten enthält der Band, ich hätte mir mindestens 30 gewünscht. Die Ausgangslage – Berlin, prekäre Künstlerinnenexistenz, scheiß Flohmarkt-Job, desillusionierte Hauptfigur – mag überstrapaziert erscheinen, aber das Ganze wird so herrlich abgefuckt aufbereitet, dass es eine Art hat. Die besten Zeiten des US-Underground kommen in den Sinn, ganz besonders Julie Doucets Bravourstücke. Der raue Schwarzweiß-Stil ist ganz darauf ausgerichtet, die Figuren und ihre Dialoge glänzen zu lassen. Wie Paloma im Interview dem Rolling Stone verrät, entstehen die Storys aus dem Flow des Zeichnens und folgen keinem zuvor erarbeiteten Konzept. Das führt zu einem perfekt direkten, konfrontativen, in jederlei Hinsicht unbekümmerten Ton. Da bietet sich die neunjährige Tochter einer Freundin, die über Weihnachten zu Besuch kommt, der Karla-Figur erst mal zum Ladendiebstahl an und statt Bescherung gibt’s Wodka und Kippen am WG-Tisch, oder das zur künstlichen Befruchtung vorgesehene gefrorene Sperma des Freundes im Kühlschrank wird mit dem des sprechenden Hundes Dexter (der nicht zufällig an den Bullterrier Baxter des gleichnamigen Horrorfilms und Ken-Greenhall-Romans erinnert), das an Züchter verkauft werden soll, verhängnisvoll verwechselt. Wie man vernimmt, soll daran auch die nächste Geschichte anknüpfen.

Karla Paloma: Ratten • Avant-Verlag, Berlin 2025 • 168 Seiten • Softcover • 25,00 Euro

Laurent Galandon, Michaël Crouzat: Rückkehr nach Tomioka

Ein Preisträger: „Rückkehr nach Tomioka“ wurde auf dem diesjährigen Comicfestival in Angoulême als bester Jugendcomic ausgezeichnet und ist in der Tat eine anrührende Überraschung. Thema ist das Trauma von Fukushima: Die Geschwister Osamu und Akiko haben die Katastrophe überlebt und befinden sich nun als Waisen in der Obhut ihrer Großmutter. Als auch die stirbt, wollen ihre Tante und ihr eigentlich widerwilliger Onkel die beiden Kinder aus der Provinz nach Tokio zu holen. Während sich Akiko notgedrungen den neuen Umständen fügt, plant ihr jüngerer Bruder – unter dem Zuspruch von Geistern, die nur er sehen kann – die Asche der Großmutter zum Familienschrein mitten in der verbotenen Zone zu bringen. Die Story ist leichtfüßig erzählt, steckt aber voller erschreckender Implikationen. Der Umgang der Stadtbewohner mit den Überlebenden des Katastrophengebiets erinnert frappierend an Keiji Nakazawas autobiographische Erzählung „Barfuß durch Hiroshima“: Wie Aussätzige behandelt, blickt man ängstlich und empathielos auf die Opfer herab, deren bloße Existenz die Erinnerung an die Ereignisse wachhält und darob stört. Auch den Kindern ist nur bedingt klar, in welche Gefahr sie sich mit dem Betreten des verseuchten Gebiets begeben. So verbindet der Plot die Odyssee der beiden stets mit dem Hintergrund einer verrohten Sozietät, und das ist so sensibel wie niederschmetternd, wenn auch in letzter Konsequenz jugendkonform dargestellt.

Laurent Galandon, Michaël Crouzat: Rückkehr nach Tomioka • Toonfish, Bielefeld 2025 • 104 Seiten • Hardcover • 22,95 Euro

Ingo Römling, Fred Duval: Metropolia Band 1

Der Werdegang des Berliner Comiczeichners Ingo Römling ist schwer beeindruckend, auch weil er sich in den Koordinaten des Genre-Comics vollzieht: 2013 startete seine erste Albenserie „Malcolm Max“ um den besagten Dämonenjäger und ist mittlerweile beim fünften Band angelangt, außerdem erschienen einige Kurzgeschichten für die Zombie-Anthologie „Die Toten“ und der entzückende Slasher-Parodie-Strip „Survivor Girl“. Als erster autorisierter deutscher Disney-Zeichner arbeitete Römling anschließend an „Star Wars Rebels“, und auch DC wurde für „Joker – The World“ mit einer von Torsten Sträter geschriebenen Story versorgt. 2020 der nächste Ritterschlag: die dreibändige Serie „Die Chroniken des Universums“ für das französische Verlagshaus Dargaud nach einem Szenario von Richard Marazano („Der Schimpansenkomplex“, „Die drei Geister von Tesla“), im Vorbeigehen gab es überdies noch einen Beitrag für das neugegründete legendäre SF-Magazin Métal Hurlant.

Und nun folgt, ebenfalls bei Dargaud und wie schon „Chroniken“ in deutscher Übersetzung beim Splitter Verlag, mit „Metropolia“ – was für eine Bilanz! – die nächste französische SF-Serie, diesmal geschrieben von Fred Duval, dessen Invasionsstory „Reset“ noch in guter Erinnerung ist. Der 2099 in Berlin angesiedelte Neo-Noir-Cyberpunk-Krimi-Mix um ein außer Kontrolle geratenes KI-Hochhaus und ein gestohlenes Digitalkunstwerk, das der Privatermittler Sascha Jäger wiederbeschaffen soll, streift souverän die Krisen der Gegenwart und Zukunft: Klimawandel, Rohstoffknappheit, Wohnungsnot, Künstliche Intelligenz als Herrschaftsinstrument. Und was Römling aufs Papier aka den Bildschirm zaubert, ist die reinste Schau: eine perfekte, filmisch inspirierte Montage, ein penibler Blick für die mikroskopischsten Details – jedes Gesicht eine nuancierte Emotion, jede Körperhaltung eine mentale Verfassung – , ein vor keinem Setting zurückschreckender filigraner Strich und eine Bildkomposition, die trotz teils wimmelbildartiger Kleinteiligkeit immer für die Übersicht und den übergeordneten Lesefluss votiert. Dafür wurde der Buchdruck erfunden.

Ingo Römling, Fred Duval: Metropolia. Band 1: Berlin 2099 • Splitter Verlag, Bielefeld 2025 • 56/96 Seiten • Hardcover • 18/35 (VZA) Euro

Nino Cammarata: H. P. Lovecraft: Das Grab

„Das Grab“ ist der Startschuss zu einer (bislang) dreibändigen italienischen Comic-Sammlung mit adaptierten Kurzgeschichten Lovecrafts aus der zweiten Reihe, zumindest was deren Popularität betrifft. 1917 von ihm geschrieben und erst 1922 veröffentlicht, geht es um die Obsessionen des Tagträumers Jervas Dudley, den es aus zunächst auch ihm unerklärlichen Gründen immer wieder zur alten Familiengruft zieht, vor deren verschlossenen Toren er dann einzuschlafen pflegt. Als er nachts darin ein Licht zu sehen glaubt, wird dieser Drang noch stärker, und die Anzeichen mehren sich, dass sein eigenes Schicksal stärker mit dem Mausoleum verbunden ist, als sein Verstand ertragen wird. Die Story ist ein Fingerspiel mit okkulten Elementen, ein abermaliger Probelauf für die Rationalität des Geistes. Der bleibt auch Zeichner Nino Cammarata auf der Spur, indem er auf Sprechblasen verzichtet und in den Textkästen einzig Lovcrafts Ich-Erzähler im O-Ton zu Wort kommen lässt. Wir sind also tief in Dudleys Psyche und müssen selbst entscheiden, wie viel Vertrauen wir in seine Beobachtungen setzen. Stilistisch ist dies von großer Erhabenheit, und Cammarata greift immer wieder auf ganzseitige atmosphärische Stimmungsbilder des Friedhofs zurück, die nicht nur schaurig, sondern mit jeder weiteren Seite, die Dudleys Isolation und geistigen Verfall zeigt, auch umso trauriger anmuten.

Nino Cammarata: H. P. Lovecraft: Das Grab • Splitter Verlag, Bielefeld 2025 • 72 Seiten • Hardcover • 19,80 Euro

Jeff Lemire, Malachi Ward: Black Hammer Band 8

2018 zählte Jeff Lemires Superhelden-Serie „Black Hammer“ zum heißesten Scheiß, den das Genre zu bieten hat. Keine Parodie, auch keine verspätete postmoderne Motivschlacht ohne Haltung, sondern eine überzeugende Verbindung der Golden-Age-Unschuld mit dem melancholischen Blick auf das von herben Identitätskrisen gebeutelte Leben in Kleinstädten, denen man nicht entfliehen kann – oft zuvor erprobt in seinen Graphic Novels –, war der Ansatz, mit dem Lemire die eingefahrenen Superhelden-Muster noch mal schelmisch auflockerte. 2025, unzählige Spin-offs, Kurzgeschichten-Spielereien und einen zweiten Hauptzyklus später, wurde dieses Universum bis auf den letzten Tropfen ausgewrungen, und überraschen mag nur noch, dass Lemire mit einem weiteren Zyklus liebäugelt. Hier soll nur protokolliert sein, dass der zweite mit diesem achten Band abgeschlossen ist.

Jeff Lemire, Malachi Ward: Black Hammer. Band 8: Das Ende • Splitter Verlag, Bielefeld 2025 • 176 Seiten • Hardcover • 29,80 Euro

Diese Beiträge erschienen zuerst in der monatlichen Comic-Kolumne auf: DieZukunft.de

Sven Jachmann schreibt als freier Autor über Comic, Film und Literatur, ist Herausgeber und Chefredakteur der Magazine Comic.de und Filmgazette.de sowie Redakteur beim Splitter Verlag. Seit 2006 Beiträge u. a. in Konkret, Tagesspiegel, ND, Taz, Jungle World, Titanic, diezukunft.de, Testcard, kino-zeit.de, Das Viertel und vielen dahingeschiedenen Magazinen. Essays für zahlreiche Comic-Editionen und DVD-Mediabooks.