„Gamma … visions“ ist das große Finale von Jens Harders über zwei Jahrzehnte entstandenes Comic-Mammutprojekt „Die große Erzählung“! Der Berliner Comickünstler zählt zu den international renommiertesten Zeichner*innen der deutschsprachigen Comicszene. Aufsehen erregte er mit seinem Langzeitcomicprojekt „Die große Erzählung“, in dem er in vier stummen Graphic Novels die komplette Geschichte der Erde und der menschlichen Evolution erzählt. 2010 erschien der erste Band „Alpha … directions“, zuerst beim französischen Verlag Actes Sud und dann als deutsche Ausgabe bei Carlsen. „Alpha“ wurde mit dem Prix de l’audace beim Comicfestival Angoulême, dem Max-und-Moritz-Preis und dem Hans-Meid-Preis für Buchillustration prämiert. 2014 und 2021 folgten „Beta … civilisations I“ und „Beta … civilisations II“. Mit „Gamma … visions“ beendet Jens Harder nach fast 20 Jahren seine ambitionierte Comicerzählung – und blickt diesmal nicht in die Vergangenheit, sondern in die Zukunft der Menschheit. Ein Gedankenexperiment, das Science Fiction, Wissenschaft und Kunst vereint. Im Presse-Interview spricht Jens Harder über die Hintergründe des Projekts.
Lieber Jens, mit „Gamma“ geht ein Projekt zu Ende, das dich seit bald zwei Jahrzehnten umtreibt. Gehen wir zu Beginn an die Anfänge zurück. Anfang der nuller Jahre nahmst du die Arbeit an „Alpha“ auf, das 2009 zunächst beim französischen Verlag Actes Sud erschien. Wie kam es damals zu diesem Projekt?
Die Idee zu „Alpha“ kam mir im Anschluss an meine Meisterschülerarbeit „Leviathan“ damals an der Uni. „Leviathan“ war ein stummer Comic über einen mythologisch angehauchten Riesenpottwal, enstand 2003, startete im Folgejahr in Frankreich sehr erfolgreich und brachte mir sogar auf Anhieb eine Nominierung auf dem größten europäischen Comicfestival in Angoulême ein. Auf diesen Erfolg wollte ich noch einen draufsetzen – noch allumfassender und die Welt noch grundlegender beschreibend oder zumindest darstellend. Ich schlug meinem Verleger Thierry Groensteen neben zwei anderen Projekten also eine Art gezeichnetes „Making of the world“ vor, und er biss sofort an.
Solch ein Buch, die gesamte Evolutionsgeschichte als einen zusammenhängenden Comic, wollte ich immer lesen. Und da ich es all die Jahre lang vermisst hatte, fühlte ich mich nun berufen, es selbst zu machen. Ich konnte dabei auf mein langjähriges Interesse an Astronomie, Paläontologie, Biologie und Archäologie zurückgreifen und nun – als Comicautor mit Anfang dreißig – endlich diese Kindheitsinteressen mit meinem Beruf verknüpfen und zu neuem Leben erwecken. Dabei ging ich anfangs recht naiv von einem Buch mit circa 200-250 Seiten Umfang aus – immerhin auch so schon die bis dahin umfangreichste Geschichte von mir. Dass es am Ende vier Bände mit 1.400 Seiten werden sollten, hätte mir mein älteres Ich besser nicht geflüstert. Obwohl – wahrscheinlich hätte ich es dennoch gewagt; wenngleich auch zögerlicher oder mit längerer Vorbereitungszeit und besserer finanzieller Ausstattung, wer weiß…

Das Besondere an „Alpha“ und den Nachfolgerbänden ist dein narratives Konzept, die menschliche Evolution nicht als klassischen Sachcomic mit Text und Bild zu erzählen, sondern als eine Art kollektives Bildergedächtnis, eine Kompilation bzw. einen Remix von Bildmaterial, der historisches Bildgut mit Malerei, wissenschaftlichen Grafiken, Popkultur-Zitaten und Werbe-Ikonographie verbindet.
Ich wollte in dieser „Großen Erzählung“ ja nicht nur zusammenbringen, was sich alles zutrug, um die Welt zu der werden zu lassen, wie wir sie heute kennen. Das wäre mir viel zu trocken, zu linear, zu didaktisch. es war auch mein Ziel, die vielen Veränderungen einzufangen, denen unser Bild der Realität unterliegt. Ich wollte sozusagen eine Darstellung der Darstellungen der Welt liefern bzw. fand es enorm bereichernd, nicht nur den jeweiligen Ist-Zustand zu zeigen, sondern auch sein Potenzial für die weiteren Geschehnisse, den Einfluss auf unser Denken und unsere Kultur, den Impact also, den eine Erfindung oder Entdeckung in späteren Zeiten provozieren würde.
Darüber hinaus kam es mir auch irgendwie vermessen vor, mir die gesamte Weltgeschichte visuell noch mal neu auszudenken – wo es doch nahezu jeden, zumindest jeden heute noch erinnerten, Sachverhalt schon vielfach abgebildet gibt. Zumindest in Form von Artefakten und Fossilien, oft auch eingebunden in die menschlichen Kulturen, in Sagen und Mythen, aber auch Erzählungen und Reflexionen aller Art, angefangen von den ersten Höhlenzeichnungen und -ritzungen bis hin zu den aktuellsten Computerrenderings und Bewegtbildern. Mit ging es darum, all diese Zeugnisse zusammenzubringen, Zeitzeugnisse aus erster Hand – vom Anbeginn an, von unseren eiszeitlichen oder neolithischen Vorfahren vor zehntausenden Jahren bis heute; aber auch Zeugnisse aus zweiter oder dritter Hand, von Meister*innen ihres Fachs, die unter fachlicher Anleitung und Heranziehung der geborgenen Funde und der analysierten Fakten die Vergangenheit wieder erfassbar machten und bis heute machen.
Zwei wichtige Quellen, aus denen sich deine Bilderwelten in „Alpha“, aber auch „Beta“ speisen, sind die Gegenpole Religion und Wissenschaft. Gab es hier in der Gegenüberstellung eine besondere Spannung für dich, auch auf der bildlichen Ebene, die dich interessiert hat? Welche Rolle spielen diese Bilder-Antagonisten in den „Beta“-Bänden, wo Glauben und Wissen in der menschlichen Evolution aufeinandertreffen?
Als Atheist kamen mir Religionen und Mythologien immer äußerst suspekt vor. Doch unser visuelles Gedächtnis ist nun mal voll von Bildern aus den letzten Jahrtausenden, die sich aus Glaubensvorstellungen speisten und versuchten, die Phänomene dieser Welt irgendwie in diesem Licht einzuordnen. Als ich begann, die Entstehung unseres Universums aus wissenschaftlicher Sicht zu zeichnen, war mir von vornherein klar, dass ich solche früheren Erklärungsversuche gar nicht ausschließen muss. Der Gesamteindruck wird viel stärker, wenn ich sie mit einwebe – einerseits um zu zeigen, wie stark sich unser Bild von allem allein in den letzten paar hundert Jahren verändert hat; andererseits aber auch, weil trotz der divergenten Zugänge zu den wichtigen Fragen des Seins in diesen nicht mehr zeitgemäßen Darstellungen überraschenderweise doch oft auch ein paar Körnchen Wahres enthalten sind. Für ein Gesamtbild, wie wir wurden, wer wir sind, und wie unsere Sicht auf die Welt sich zu dem formte, wie es sich heute darstellt, war dieser Kontrast zwischen Wissen und Glauben, dieses Hin- und Herschalten zwischen beiden Zugängen essentiell wichtig.

Manchmal war diese Nebeneinanderstellung antagonistischer Bildpaare eher harmloser Natur; dafür aus meiner Sicht recht unterhaltsam, ja sogar erhellend. So zeige ich in „Alpha“ nach dem Asteroidenaufprall vor 65 Millionen Jahre in vielen Panels Abbildungen aussterbender Dinosaurier, die ja u. a. oft in Tsunamis ertranken. Dazwischen finden sich aber auch zwei, drei Sintflut-Illustrationen aus der Bibel. Beides dramatische Aussterbeereignisse, nach denen welche Wirbeltier-Ordnungen hauptsächlich überlebten? Vögel und Säugetiere. Für die Christen galten Amphibien und Reptilien als unreine Tiere, deswegen sieht man auf Noahs Arche fast ausschließlich nur gerettete Vogel- und Säugerpaare versammelt.
Dramatisch wurde es dann, wenn sich die Bilder, die sich die verschiedenen Seiten von der Welt machten, diametral widersprachen, wenn also zum Beispiel Wissenschaftlern ihre Entdeckungen zur Last gelegt wurden. So in „Beta“, als sich Galileo Galilei vor den Inquisitoren dafür rechtfertigen musste, dass er Beweise für das heliozentrische Weltbild fand. Hier stießen die bahnbrechend neuen, verifizierten Abbildungen (die durch Galilei entdeckten Jupitermonde) direkt zusammen mit den überkommenen Vorstellungen (die Sonne drehe sich um die Erde) der immer noch im mittelalterlichen Denken verharrenden Kirchenoberen, die den berühmten Astronomen schließlich zum Widerrufen seiner Entdeckungen zwangen.
Mit „Gamma“ beendest du nun dieses ambitionierte Projekt, und das Konzept ist überraschend: Nachdem du in „Alpha“ und „Beta“ der wissenschaftlich belegten Urgeschichte und der menschlichen Vergangenheit nachgespürt hast, blickst du nun in „Gamma“ in die Zukunft; damit wird dein Projekt zu einer Utopie. Kannst du ein bisschen über das Konzept von „Gamma“ erzählen? Wie war für dich die Umstellung vom „Sachbuch“ zur „Fiktion“?
Es klingt vielleicht etwas schräg, aber an der grundsätzlichen Arbeitsweise hat sich gar nichts geändert. Es ist immer noch so, dass ich zuerst die Geschehnisse des jeweiligen Kapitels in Textform bringe – meistens einige wenige prägnante Sätze plus die Zusammenfassung am Ende der jeweiligen Epoche. Wenn ich diese zentralen Beschreibungen fixiert habe, versuche ich sie mit Leben zu füllen, indem ich passende Panelfolgen und ganze Seiten darum arrangiere.
Nur die Recherche hat sich natürlich extrem gewandelt. Ging es in „Alpha“ und „Beta“ darum, nach möglichst aktuellem Wissensstand und möglichst präzise vergangene Ereignisse und Entwicklungen zu benennen bzw. zu einer Art Erzählung zu verdichten, treffe ich nun in „Gamma“ ja Aussagen über Zukünftiges. Somit las und streamte ich alles, was mir zwischen die Finger geriet, um damit meine Prognosen über das weitere Voranschreiten unserer Zivilisation und der Entwicklungen auf der Erde und drumherum abzuschließen, die – zumindest aus meiner Sicht – einigermaßen plausibel erschienen und nicht völlig dem Reich der Fantasie entspringen. Für die Bebilderung wählte ich dann passende Motive aus den tausenden von Zukünften, die sich SF-Autor*innen, -regisseur*innen und -zeichner*innen in den letzten Jahrzehnten ausdachten, und kombinierte diese Zitate dann mit weiteren aussagekräftigen Quellen, etwa den allerneuesten Renderings futuristischer Szenarien verschiedener Unternehmen oder Institute, aber auch bereits veralteten Darstellungen aus dem späten 19. und frühen 20. Jahrhundert. Somit treffen sich sowohl Uto- als auch Dystopien, völlig Überholtes verschränkt sich mit extrem Futuristischem; alles verbunden durch einen ausformulierten Möglichkeitspfad in die Zukunft.

Auf wie viele Jahre in die Zukunft ist deine Evolutionsvision angelegt? Und was sind die wichtigsten Eckpunkte deiner Erzählung?
„Gamma“ reicht vom Jahr 2023 bis zum Ende des uns bekannten Universums, das ich in rund 100 Milliarden Jahren ansiedele. Für diesen Ausklang haben die Astrophysiker drei Szenarien definiert – Big Rip, Big Freeze und Big Crunch / Bounce. Da ich zwar der Existenz von allem einen tieferen Sinn abspreche, aber dennoch eine Einmaligkeit unserer Welt für unerträglich sinnlos halten würde, hoffe bzw. setze ich auf letzteres Finale, auf den Big Crunch, also eine Umkehr des inflationären Alls, die eines Tages alle Materie wieder zu einer zusammenhängenden Masse vereint, in einem gigantischen Schwarzen Loch, das sich dann zu einer neuen Singularität zusammenzieht.
Da du nach den wichtigsten Eckpunkten fragst: In „meiner“ Zukunft wären dies 1) die voranschreitende Besiedlung des Sonnensystems (Solarisation) durch uns Menschen, 2) die Separation der menschlichen Sphären in Riesenkuppeln auf der Erde zu Beginn der UKA (der Ultimativen Kybernetischen Ablösung), 3) die vollständige Eliminierung allen Lebens von der Erde zum Abschluss der UKA, 4) fortwährende Kämpfe um Ressourcen zwischen der Ex-Erde und den noch existenten humanen All-Kolonien, 5) die Etablierung einer expansiven maschinellen Daseinsform nach der kompletten Einnahme des Solarsystems. Ab dann bestimmen nur noch Maschinen das Geschehen und bauen sich zuerst eine Dyson-Sphäre um die Sonne und später nach und nach einen gewaltigen Galaxienverbund auf, der so lange Bestand hat, bis seine Energievorräte nahezu komplett durch eine unbekannte… okay, mehr dazu in den letzten Kapiteln von „Gamma“.
Wie hast du über die nahe und ferne Zukunft der Menschheit recherchiert? Ab welchen Punkt verlässt man bei einem solchen Gedankenexperiment das Feld der Wissenschaft und Forschung und wechselt zu Science Fiction über? Ist der Übergang fließend?
Bei Aussagen über die Zukunft ist es ja im Großen ähnlich wie auch im Kleinen, im eigenen Leben – man kann sehr gut voraussagen, was man in zehn Minuten tun wird (vielleicht ein Glas Wasser trinken) oder in hundert Jahren (tot sein). Also sehr kurzfristige Aussagen sind recht gut zu treffen, weil man sich noch auf festem Boden bewegt und diese Aussagen oft das jetzt Bekannte fortschreiben. So nehme ich an, dass die regenerativen Energiequellen die fossilen in wenigen Jahren dauerhaft abhängen werden – was ja zwangsläufig passieren wird. Des Weiteren behaupte ich, dass im Jahre 2028 mit einem Anti-Putin-Putsch in Russland der Ukrainekrieg beendet wird. Dies ist zwar bereits recht kühn, entbehrt aber nicht gewisser realistischer Annahmen. Auf sehr lange Sicht kann ich auch ziemlich gesicherte Aussagen treffen. Dass unsere Sonne in circa sieben Milliarden Jahren ausgebrannt sein wird und sich zu einer Supernova aufbläht, ist ausgemacht. Dass sich „kurz davor“ die Milchstraße mit der Nachbargalaxie Andromeda vereinen wird, ebenso. Und dass unser All in vielen Milliarden Jahren ein Ende finden wird, auf gewisse Art auch. Bei allen Entwicklungen dazwischen bin ich hingegen mehr oder weniger völlig im Nebel unterwegs. Hier beruht alles stark auf Vermutungen, was ich für plausibel oder zumindest möglich halte.
Science Fiction – oder „utopische Literatur“, wie es früher hieß – las ich ja sehr intensiv seit meiner späteren Kindheit bis circa Anfang zwanzig (dann verlor ich leider erst mal das Interesse), hatte also schon sehr früh begonnen, mich mit Zukunftsfragen zu beschäftigen. Für „Gamma“ galt es nun, den möglichst aktuellsten Wissensstand zu allen relevanten Themenbereichen anzuzapfen. An Quellen für meine Voraussagen nutzte ich alles, was mir zur Verfügung stand – zukunftsrelevante Bücher (von Noah Yuval Harari, Kai-Fu Lee, Manuela Lenzen, Angela & Karlheinz Steinmüller usw.), Interviews (mit „KI-Urvater” Geoffrey Hinton, mit dem Internet-Pionier Jaron Lanier, mit sogenannten Think-tanks, diversen Philosophen), vor allem aber die neuesten Veröffentlichungen der NASA, ESA oder des Max-Planck-Instituts, von wissenschaftlichen Magazinen wie Spektrum, GEO, Scinexx oder National Geographic.

Im Mittelpunkt aller wichtigen Entwicklungen, die du für die kommenden Jahrzehnte prognostizierst, stehen die Themenfelder KI und Klimawandel. Was kommt deiner Meinung nach in diesen Gebieten auf die Menschheit zu?
Das Thema Klimawandel wird uns die nächsten Jahrzehnte und Jahrhunderte extrem beschäftigen – und das, obwohl die Transformation der Wirtschaft mit Hochdruck vorangetrieben wird und auch heute noch verpönte Geoengineering-Maßnahmen verstärkt eingesetzt werden. Viele Küstenstädte müssen aufgegeben oder extrem stark befestigt werden; eine andere Strategie wird zu schwimmenden Städten, vielleicht sogar Unterwassersiedlungen führen. Aber all das ist – mit enorm hohem Aufwand – irgendwie handhabbar.
Was wir aber eines Tages nicht mehr im Griff haben werden, ist die Kontrolle über unsere immer intelligenter werdenden Maschinen. Ich lege eine Übergabe des Staffelstabes schon extrem weit nach hinten, aber spätestens in 250 Jahren bestimmen wir nicht mehr den Fortgang der Geschichte. Die Algorithmen werden a) immer allwissender und b) immer allmächtiger. Erste Firmen werden sicherlich schon in wenigen Jahren ihre Geschicke komplett in deren Hände legen; als erster Staat bei mir in enigen Jahrzehnten das imaginierte zukünftige Pan-Bharat (Großindien). Von da bis zu einer alternativen KI-Weltregierung, die eine Zwei-Erden-Doktrin proklamieren wird, ist es dann nicht mehr allzu weit. Und welche Prioritäten ab dann gesetzt werden, liegt wohl kaum noch in unseren Händen.
Bleiben wir beim Thema KI – welche Rolle spielte diese Technologie für die grafische Umsetzung von „Gamma“, und wie stehst du als Künstler zum Thema?
Den Einsatz von Bildgeneratoren sehe ich äußerst kritisch. Abgesehen von deren Grundlage – der aus allen nur denkbaren Quellen zusammengekratzten Datenbasis, der fast sechs Milliarden Bilder umfassenden LAION-5B, die Unmengen an urheberrechtlich geschütztem Material enthält – bedeutet die Schwemme an generierten Motiven, die uns seit zwei, drei Jahren entgegenbrandet, ja auch eine gigantische Entwertung der Arbeit aller Kreativen – nicht nur auf der Bildebene, sondern in allen Bereichen wie Text, Video, Musik etc. Dennoch entschied ich mich dafür, solche generierten Bilder einzubauen – selbst erzeugte und bei der Recherche gefundene –, und das, obwohl ich mir der Schwierigkeiten des Einsatzes solcher Motive sehr bewusst bin. Ich nutze sie aber nicht, um mir die Arbeit zu erleichtern, sondern um eine starke Wirkung zu erzielen – die Wirkung einer Entfremdung, einer Verrätselung, ja auch einer Bedrohung. Immerhin kann man ja das gesamte Buch auch als eine Art Warnung lesen – eine Warnung, was aus den Entwicklungen werden kann, die wir heute so leichtfertig anstoßen, zulassen, ja sogar unterstützen. Im übertragenen Sinne mache ich also Zielübungen an Schusswaffen, um eine Ahnung davon zu bekommen, wie sie ungefähr funktionieren, und vor allem um besser die Gefahr zu verdeutlichen, die von ihnen ausgeht.
Meinen Stil habe ich übrigens mit jedem Buch leicht geändert – nur war dieser Wechsel bei den vorangehenden Bänden vielleicht eher graduell. Während „Alpha“ noch mit Farbstiften und Tuschepinseln auf A3 gezeichnet und am Lichttisch gefärbt wurde, ging ich über die „Beta“-Bände zu immer flüchtigeren Zeichnungen (Bleistift auf A4) und digitaler Kolorierung über. Für „Gamma“ wählte ich eine nahezu komplett computergestützte Umsetzung der Seiten, zwar immer noch sehr manuell und langwierig, aber eben nicht mehr klassisch auf Papier. Das war mir extrem wichtig, um das Enthumanisierte des Großteils der Erzählung zu unterstreichen. Um dieses Buch umzusetzen, das ja vom Ende unserer Existenz erzählt und innerhalb dessen die Allmacht an unsere technoiden Urenkel übergeben wird, suchte ich nach dem stärksten Effekt, diese Ablösung, den Übergang vom Menschen zu den Maschinen auch optisch erfahrbar zu machen. Also durch eine entindividualisierte Linienführung, durch eine sehr kalte Art der Kolorierung und sehr spezielle digitale Effekte wie Pixeln oder Treppen – die es ja normalerweise unbedingt zu vermeiden gilt in der rechnerbasierten Bildbearbeitung.

Du hast für „Gamma“ eine seltsame Kunstsprache erfunden, die sich im Laufe des Buchs wandelt und immer technischer, entmenschlichter wird. Was verrät uns die Sprache über unsere Zukunft und über die Perspektive, aus der über sie erzählt wird?
So wie die Bildebene unnatürlich, unmenschlich und damit auch unnahbar wirken soll, wollte ich dazu passend auch die Texte mehr und mehr verfremden. Es kann ja aus rein logischen Gründen nach dem Abschied der letzten Humanen keine menschliche Perspektive, keine vertraute Erzählerstimme mehr geben. Die Sprache sollte also bis zu einem gewissen Grad maschinell und abgehackt wirken. Ich orientierte mich sprachlich an vier Vorbildern: Wichtigste Inspiration war – besonders gegen Ende des Buches – George Orwells Neusprech in seinem grandiosen „1984“. Also Wortneuschöpfungen, die Themen oder Bedeutungen zusammenführen und gleichzeitig stark verkürzen; manchmal sogar verharmlosen und umpolen. Ich schreibe „zerstörlassen“ statt „zerstören lassen“ oder „finalbejaht“ für etwas abschließend Bewilligtes. Daneben waren auch Slogans Kommunistischer Parteien (ich war ja zwanzig Jahre DDR-Bürger), die extrem knappen und präzisen Befehle aus dem Militär (ich komme aus einer Offiziersfamilie) und Befehlsfolgen in Programmiersprachen (ich hatte Ende der Achtzigerjahre noch BASIC gelernt) eine gute Orientierung für mich.
Um das Ergebnis noch unvertrauter wirken zu lassen, fügte ich darüber hinaus Fehler ein (die im Vorwort als technische Probleme beim Übertragen der Informationen aus der Zukunft beschrieben werden). Diese sollen einerseits die Aufmerksamkeit der Leser*innen fordern, andererseits auch den Lesefluss hemmen und im besten Fall zum wiederholten Lesen und Drübernachdenken führen. Ich achtete dabei immer darauf, dass keine echte Information verloren geht, dass man die Worte ergänzen kann, dass es nur kleine Hacker oder Stotterer sind – Leerzeichen, Semikoli, vertauschte Reihenfolgen, Dopplungen oder ab und an ein stummes H innerhalb der Worte; sehr gern auch statt der Buchstaben ähnlich aussehende Ziffern.
Zum Schluss hätten wir gerne ein paar exklusive Orakeleien von dir: Was wird dieses Jahr noch alles auf der Weltbühne passieren? Sollen wir schon mal unseren Hausstand verkaufen und uns in unterirdische Höhlensysteme zurückziehen? Wie viele gute Jahre gibst du uns noch?
Für 2025 habe ich ehrlich gesagt gar nichts besonderes „geplant“. In Höhlen ziehen müssen wir auch nicht; dafür wird es ja später die (meist oberirdischen) Schutzkuppeln geben. Aber der von vielen Seismologen in naher Zukunft erwartete Ausbruch des Supervulkans unter dem Yosemite-Nationalpark wird uns ab 2097 mächtig in Schwierigkeiten bringen. Zwar bremst er als Nebeneffekt vorübergehend die Erderhitzung etwas ab; eine Phase von fünfzehn vergessenen Sommern jedoch wird viele Ernten vernichten und bringt die Belastbarkeit der Weltwirtschaft an ihre Grenzen. Generell wird der Fortschritt laut meiner Erzählung noch bis ins Jahr 2280 kontrollierbar sein und es somit recht gut weiterlaufen mit der menschlichen Zivilisation; danach beginnt die erste Stufe der Separation, dann beginnt die UKA (Ultimative Kybernetische Ablösung) und damit unser unfreiwilliger Rückzug, zuerst vom Planeten Erde und später sogar aus dem gesamten Sonnensystem. Spätestens um 2530 müssen die letzten von uns unseren Heimatplaneten verlassen – wer bis dahin sein Haus noch nicht verkauft hat, der… na ja, lassen wir das.
Jens Harder: Gamma … visions • Carlsen, Hamburg 2025 • 192 Seiten • Hardcover • 44,00 Euro

