Ein Verkehrsopfer kommt selten allein

In seiner Graphic Novel „Zwei bleiben“ zeigt der US-amerikanische Comickünstler Jordan Crane die Mechanismen der Trauerarbeit in Paarbeziehungen.

#William und Connie sind ein durchschnittliches Paar mit Katze, Konflikten und einem leeren Kühlschrank, als sie nach einer langen Autofahrt mit gemeinsamer lauter Lektüre wieder zu Hause ankommen. Der Streit kühlt rasch wieder ab, und auch die Frage, wer sich nun für den notwendigen Einkauf verantwortlich fühlt, ist nicht kompliziert, denn Connie macht das gern, sofern Will sich um den Abwasch kümmert. Gesagt, gespült, und schon verlässt Connie das Haus.

Allein mit sich, der Spülbürste und den typischen Geräuschen der in das Seifenwasser eintauchenden Speiseteller kommen Will seltsame Gedanken: Dauert Connies Einkauf nicht ungewöhnlich lange? Ist ihr womöglich etwas zugestoßen? Ein Unfall, ein Raubmord? Das Kopfkino spult einen gewaltverliebten Film verschiedener Möglichkeiten vor seinem inneren Auge ab. Schließlich macht William sich auf den Weg, um Connie zu suchen, und als sein Handy plötzlich klingelt, weil Connie ihn zu erreichen versucht, muss er versuchen, verantwortungsvoll im Straßenverkehr zu navigieren und gleichzeitig dieses verdammte Handy zu finden.

In „Zwei bleiben“ nimmt der Tod beim Autofahren eine besondere Rolle ein – statistisch gesehen ist das nicht sehr realistisch. Die Zahl der jährlichen Straßenverkehrstoten in Deutschland liegt seit einigen Jahren konstant bei etwa 3.000 Personen, wesentlich unter den Zahlen Anfang der 1970er, als es noch keine Gurtpflicht in Deutschland gab. Damals starben jährlich etwa 18.000 Menschen jedes Jahr auf hiesigen Straßen. In „Zwei bleiben“ geht es aber nicht um Wahrscheinlichkeiten, sondern um die Phantasie.

Die Haupthandlungsstrang in der Gegenwart, also der verkorkste Abend von Will und Connie, ist durch schwarze, rechteckig-geradlinige Panelrahmen hervorgehoben. Alle anderen Ebenen, d. h. die Erinnerungen, die Phantasien, die Ängste und die Buchlektüre, die letztlich ihre Bilder erst im Kopf manifestiert, sind allesamt in nicht umrandeten Panels dargestellt, mit leicht unregelmäßigen Rechteckformen. Es erhält also nicht jede Erzählebene eine eigene zeichenhafte Repräsentation, sondern Crane stellt die reale Gegenwart sämtlichen nicht-real-gegenwärtigen Handlungen gegenüber: Dadurch werden Phantasie, fiktive Geschichten und eigene Erinnerungen in einen Topf geworfen.

© Suhrkamp

Neben der Haupthandlung zwischen Will und Connie gibt es eine Binnenhandlung, also Wills Erinnerung an Connies lautes Vorlesen während der Autofahrt. Es handelt sich um einen Roman über ein Paar, Daniel und Claire, das unter der Belastung einer Totgeburt leidet und sich in gegenseitigen Vorwürfen und Todesphantasien völlig verliert. Wie Connie und William haben sie sich in ihren Phantasien und Ängsten vollständig eingerichtet, sie atmen zwar noch die Luft der Wirklichkeiten, leben aber längst nicht mehr dort. Auf einer gemeinsamen Kreuzfahrt kommt es zu einem Unglück. Kein Auto, aber die Parallelen zur Rahmengeschichte sind offensichtlich.

Im Juli 2022 erschien der Comic bei Fantagraphics („Keeping Two“) und hat zu diesem Zeitpunkt schon eine lange Geschichte hinter sich. Die ersten Zeichnungen reichen bis in die 1990er-Jahre zurück, so Crane in einem Interview. Und er hat, um den künstlerischen Prozess sichtbar zu machen, die Originale der frühen Jahre für die Fantagraphics-Gesamtausgabe in dem ursprünglichen Zustand belassen. Wer die alten Ausgaben von Cranes „Uptight“ (ab 2006) zur Hand nimmt, wird das bestätigt finden, abgesehen von der nachträglichen Kolorierung.

Diese ist allerdings eine Herausforderung. Anstelle eines schlichten Schwarzweiß hat Crane sich für eine durchgehende Einfärbung in Grüntönen entschieden. Das erfüllt natürlich formal das Kriterium „farbig“, trägt aber zum visuellen Genuss wenig bei. Es ist weder abwechslungsreich noch hat es eine zeichenhafte Funktion, dass wir statt sattem Schwarz ein tiefdunkles Grün anstarren. Die durchgehende Panelstruktur von 3×2 trägt zu dem etwas eintönigen Erzählen bei, wird aber von dem anspruchsvollen Erzählen auf verschiedenen Ebenen maximal konterkariert.

Solche langen Bearbeitungszeiträume führen oft dazu, dass einzelne Abschnitte gut als solche funktionieren, die Gesamthandlung aber ein wenig ziellos dahinirrt. In „Zwei bleiben“ bekommt Crane den Bogen am Ende, und es ist fast schon erstaunlich, dass ihm die Parallelführung der beiden Handlungsstränge doch gelingt, aber manche Passagen sind unglaublich zäh, etwa manche der Gewalt- und Todesphantasien.

Ach ja, der Titel. Natürlich denkt man bei „Zwei bleiben“ sofort an das kinderlos bleibende Paar in der Binnengeschichte, denen es nach dem Verlust ihres Kindes schwerfällt, als Paar zu bestehen, also ‚zwei zu bleiben‘. In der Rahmenhandlung wiederum geht es nicht um unerfüllte Kinderwünsche. Will und Connie haben eine Katze, aber keinen ausgeprägten Kinderwunsch. „Zwei bleiben“ scheint also auf dieser Ebene gar keine Rolle zu spielen. Aber das ist natürlich ein Irrtum.

„Zwei bleiben“ hat eine weitere und wichtigere Bedeutung. Als Will und Connie gleich zu Beginn des Comics zu Hause ankommen, hört Will den Anrufbeantworter ab und erfährt, dass der junge Bruder des Mitbewohners eines Freundes (also: irgendwer) an Leukämie verstorben sei. Und der Hund seiner Mutter auch. Daraufhin fragt Will: „Was ist mit der Dreierregel? Sterben nicht immer drei Leute auf einmal?“ Und obwohl alle Figuren den Tod des Partners in diversen Variationen imaginieren, bleibt es am Ende bei den zwei Toten. Sie ‚bleiben zwei‘. Ein Happy End am Ende eines traurigen Comics.

Jordan Crane: Zwei bleiben • Aus dem Amerikanischen von Conny Lösch • Suhrkamp, Berlin 2023 • 320 Seiten • Hardcover • 26,00 Euro

Gerrit Lungershausen, geboren 1979 als Gerrit Lembke, hat in Kiel Literatur- und Medienwissenschaften studiert und wurde 2016 promoviert. Er hat Bücher über Walter Moers, Actionkino und den Deutschen Buchpreis herausgegeben. 2014 hat er zusammen mit anderen das e-Journal Closure gegründet und ist bis heute Mitherausgeber. Derzeit lebt er in Mainz und schreibt für Comicgate und die Comixene. An der TU Hamburg-Harburg unterrichtet er Comic-Forschung.