Rätselhafte Bildwelten

Anke Feuchtenberger gehört zu den einflussreichsten Comic-Künstlerinnen Deutschlands. Weil sie einen sehr eigenen, bildgewaltigen Stil erschaffen hat. Und weil sie die erste deutsche Comic-Professorin an der HAW Hamburg wurde und als solche seit 26 Jahren den Comic-Nachwuchs prägt. Nun hat sie ihr bislang seitenstärkstes Einzelwerk vorgelegt: „Genossin Kuckuck“.

Der Comic steigt mit einer Kindheitsszene aus den 60er Jahren ein. Kerstin und ihre Freundin Effi hüpfen auf einem Sofa unter dem Kopf eines ausgestopften Keilers. Mit einer kindlichen Leichtigkeit beteuern die beiden einander ihre Zuneigung. Als Kerstin schwören soll, dass sie Effi immer lieben wird, kippt die Situation, denn Effi verlang von Kerstin, dass die beim Schwur ihre Hand in das Maul des Keilers legt – und genau davor hat Kerstin Angst.

Aus dieser Grundkonstellation entfaltet Anke Feuchtenberger die Lebensgeschichte von Kerstin bis in die Gegenwart. Und seziert damit die unterschiedlichen Beziehungen, die Kerstin hat: zu ihrer alten Freundin Effi, zu deren Mutter, aber auch zu ihrer eigenen Familie mit ihrem Bruder, der Mutter und den Großeltern. Und immer wieder inszeniert Anke Feuchtenberger dabei diese Kipppunkte, in denen aus Zuneigung Angst wird, oder Schrecken – oder Enttäuschung.

Anke Feuchtenberg ist für ihre eigensinnigen Bildwelten bekannt: Auch „Genossin Kuckuck“ ist mit den von der Strichführung her sehr dichten Zeichnungen erzählt, für die sie berühmt ist. Allein wie sie die Natur zeichnet, ist unglaublich sinnlich. Wenn Kerstin in das Wasser eines Sees taucht, dann spürt man geradezu, wie sich das kühle Nass um den Körper legt und wie der Wind danach durch die feuchten Haare fährt. Dann wieder ist das Dickicht so dicht, dass kaum ein Lichtschimmer durchfällt, und plötzlich bricht ein Tier durch, dessen Augen funkeln.

Diese Bildebene hat ihre ganz eigene Bedeutung: Sie lässt Erfahrungen nachvollziehbar werden, Verdrängtes aufbrechen. Manches wirkt surreal, wie ein Traum, etwa die Schnecken, die sich durch alles durchfressen und so nah gezeichnet werden, dass sie wie Individuen wirken. Und dazu kommt die Sprache, die oft ein wenig altertümlich wirkt und nicht immer mit der Bildebene korrespondiert. Etwa wenn der Großvater, der als vorbildlicher Genosse gilt, weil er Lenin getroffen hat, die Tiere aus einer Schale füttert, auf deren Boden ein Hakenkreuz prangt. Das wird ganz nebenbei im Text erwähnt. Anke Feuchtenberger versteht es meisterhaft, Verdrängtes an die Oberfläche zu holen und dort ein Eigenleben führen zu lassen. Das gilt für die Verlockungen des Westens, sexuellen Missbrauch und die Ambivalenz der Sexualität ganz allgemein.

Der Titel „Genossin Kuckuck“ bleibt lange rätselhaft. Zuerst taucht der Kuckuck als Kuckucksruf auf, den Kerstin von ihrer Oma gelernt hat. Eine Oma, die in der Dorfschule Russischlehrerin war und sich sehr für den Sozialismus engagiert hat. Viel später zeichnet Anke Feuchtenberger eine Versammlung von Tieren, die darüber diskutieren, wann eine Mutter ihr Kind verlassen darf. Etwa, um Gefahr vom eigenen Nest abzuwenden. Nur der Kuckuck hat immer Besseres zu tun, als sich um seine Kinder zu kümmern.

Könnte also die Großmutter „Genossin Kuckuck“ sein? Die, die so sehr mit dem Aufbau des Kommunismus beschäftigt ist, dass sie kaum Zeit hat, sich um ihre Kinder zu kümmern? Und die auch noch so viel damit zu tun hat, die Idealisierung der Russen als Befreier mit ihrer eigenen Erfahrung zusammenzubringen, dass die Russen nach der Befreiung eben auch Vergewaltiger waren.

Das Buch macht mit Goldschnitt und Prägung einen sehr wertigen Eindruck. Das scheint ein Gegensatz zur Kindheit von Kerstin zu sein, der es an Nähe und Zuwendung gemangelt hat. Und zugleich ist dieser Comic eine Aufarbeitung der deutschen, vor allem der ostdeutschen Geschichte, in der all das, was verdrängt wurde, wieder zum Vorschein gebracht wird und in die Biografien von Menschen integriert wird. Es ist eine deutsche Mentalitätsgeschichte – die wertvoll ist, weil sie so präzise Erfahrungen sammelt und beschreibt. Und weil das bei all den Zumutungen, die dieses Buch bietet, so unglaublich schön gezeichnet ist, dass es einen ungeheuren Sog entwickelt.

Dieser Beitrag erschien zuerst am 06.09.2023 auf: rbbKultur

Anke Feuchtenberger: Genossin Kuckuck • Reprodukt, Berlin 2023 • 480 Seiten • Hardcover • 44,00 Euro

Andrea Heinze arbeitet als Kulturjournalistin u. a. für kulturradio rbb, BR, SWR, Deutschlandfunk und MDR.