Bilder, die bleiben

Bild aus "Lehrjahre" (Reprodukt)

Alte traumatisierte Frauen erzählen vom Grauen des Krieges in Tschetschenien, von Bombardements, Hunger und Verzweiflung. Ein verpeilter junger Mann mit Komplexen und Zeichentalent erlebt den Arbeitsalltag, Ausbeutung und ökologische Brutalität inbegriffen, in einer Zellstoff-und-Papier-Fabrik in Quebec. Eine israelische Archäologin gräbt unter der Mauer zum Westjordanland nach Zeugnissen der Vergangenheit und stößt dabei auf einen Tunnel, der von der palästinensischen Seite zu ganz anderen Zwecken gegraben wurde. Was haben diese drei Geschichten miteinander gemeinsam, außer dass sie an sehr konkreten Stellen den Wahn der gegenwärtigen Welt-Unordnung angreifen? Sie sind nicht als Textreportagen, Filme oder Fotografien wiedergegeben, sondern als Comics. Als Dokumentar- oder Reportage-Comics. Und sie stammen von großen Künstlerinnen ihres Mediums, dem US-Amerikaner Joe Sacco („Reportagen“), dem Frankokanadier Guy Deslisle („Lehrjahre“) und der Israelin Rutu Modan („Der Tunnel“). Sie belegen, welche thematische und stilistische Vielfalt aus einer mehr oder weniger neuen Verbindung von journalistisch-kritischer Recherche und serieller Zeichnung entstehen kann.

Seite aus Marjane Satrapis „Persepolis“ (Edition Moderne)

Natürlich ist auch das Genre der Comic-Reportage nicht über Nacht entstanden. Schon lange gibt es Versuche, Zeitgeschichte in der Form der grafischen Erzählung wiederzugeben, und die ließen sich schließlich – Art Spiegelmans „Maus“ war ein grandioses Beispiel dafür – auch mit einer sehr persönlichen Ebene der Erfahrung verbinden. Seit 1970 begleitet die Serie „Doonesbury“ von Garry Trudeau die amerikanische Politik aus einem linksliberal kritischen Blickwinkel. Keiji Nakazawa verarbeitete in „Barfuß durch Hiroshima“ (ab 1972) seine traumatischen Kindheitserlebnisse während des Atombombenabwurfs 1945 über seiner Stadt.

Der autobiografische Gestus blieb für das zeitgeschichtliche Erzählen maßgeblich, schließlich setzt sich die Gegenwart des Autors in seinem Werk neben einer fixen Figur auch in einem sehr persönlichen Strich, in Bild-Aufteilung und Perspektive fort. Besonders wirkungsvoll ist dabei die Perspektive des Kindes, das politische, soziale und kriegerische Veränderung in der nächsten Umgebung erfährt, und dem kann auch eine Vereinfachung der Bildsprache entsprechen. Wir teilen dann den neugierigen, erschrockenen, abenteuerlichen und noch unkorrupten Blick des Mädchens oder des Jungen. In der postkolonialen, migrantischen und zerrissenen Welt ist dieser autobiografische Kinderblick der vielleicht zärtlichste Weg, sich Fremdheit und Konflikt zu stellen. Die beiden weltweit wohl erfolgreichsten Comic-Erzählungen, die Kindheitserinnerung und politische Hintergrund-Recherche verbinden, sind Marjane Satrapis „Persepolis“ und Riad Sattoufs „Der Araber von morgen“.

Eine ganz andere Quelle für den Comic-Journalismus ist der „New Journalism“, der von Tom Wolfe, Terry Southern oder Joan Didion in den 1960er und 1970er Jahren postuliert wurde. Er brach mit den Konventionen des klassischen Journalismus, löste die Grenze zwischen Kunst und Reportage auf, suchte nach allen erdenklichen Mischformen, um „alles“ aufzuzeichnen, Geschehen und Hintergrund, Eindruck und Tatsache, subjektives Empfinden und hyperrealistisches Detail. Gewiss hüten sich die meisten Vertreter*innen vor den Exaltationen eines Hunter S. Thompson, doch ohne die programmatische Befreiung vom Kanon des Journalistischen vor einem halben Jahrhundert wäre die Comic-Reportage von heute wohl nicht denkbar.

Seite aus Joe Saccos „Sarajevo“ (Edition Moderne)

Um es mit den Worten von Joe Sacco zu sagen: „Die Vorteile eines grundsätzlich interpretierenden Mediums wie Comics bestehen darin, dass sie mir erlauben, die Grenzen des traditionellen Journalismus zu sprengen.“ Und mehr noch: „Das Medium Comics zwingt mich, unerbittlich Partei zu ergreifen.“ Sacco ist vielleicht nicht der alleinige Erfinder, wohl aber der erste Vollender der Gattung, vielleicht auch der Namensgeber für den Comic-Journalismus.

Er geht seit den frühen 1990er Jahren mit seinen Zeichenutensilien dorthin, wo es schmerzt: In „Sarajevo“ beschreibt er unter anderem die grausamen Kämpfe aus der Perspektive eines jungen Serben, der auf der Seite der Bosnier die Stadt verteidigen hilft und später Fremdenführer für Journalisten wird. „Bosnien“ geht der Entstehung der Konflikte durch Rassismus, Nationalismus und Sexismus in der Stadt Goražde nach, zu der Sacco seit 1995 immer wieder zurückgekehrt ist. „Gaza“ spürt den Ereignissen der Jahre nach 1956 nach, der Besetzung des Gaza-Streifens durch die israelische Armee, ist zugleich Suche nach Wurzeln und aktuelle Bestandsaufnahme der Konflikte. Immer zeichnet er sich in seine realistischen, gelegentlich an den späten Robert Crumb erinnernden Bild-Reportagen selbst hinein, als Zuhörenden, Sehenden, manchmal Verzweifelten.

In „Wir gehören dem Land“ geht Sacco zum indigenen Volk der Dene im Norden Kanadas und dokumentiert den langen Kampf gegen die Zerstörung ihrer Heimatwälder aufgrund der Profitinteressen von Konzernen. Es zeigt seine Vorgehensweise des Dabei-Seins, zuerst mit einem unverstellten, naiven Blick, der mit immer mehr Wissen und Wahrnehmung geschärft wird und nach und nach hinter der dramatischen und tragischen Wirklichkeit das Geflecht von Macht und Profit erkennt. Joe Sacco zeichnet nicht nur das Erkannte, er zeichnet den Prozess des Erkennens, und er zeichnet, wie aus diesem Erkennen der Wirklichkeit eine Position von Anklage und Engagement werden muss. Dabei ist er nie rein „agitatorisch“ (auch was das anbelangt, gibt es im Comic ja eine Sub-Geschichte), vielmehr geht es darum, verschiedene Perspektiven, verschiedene Narrative miteinander zu verbinden.

Doppelseite aus „Beate & Serge Klarsfeld. Die Nazijäger“ (Carlsen)

Wenn es bei den autobiografischen Formen des Comic-Journalismus oft um eine formale Vereinfachung geht, birst bei Joe Sacco alles förmlich vor Information und Eindruck. Zwischen diesen beiden Polen – Erlebnisfluss und dokumentarisches Tableau – bewegen sich die meisten Comic-Reportagen: der bewusst rohe Stil von Nino Paula Bulling, die in „Im Land der Frühaufsteher“ (2012) von der Situation afrikanischer Geflüchteter in Deutschland berichtet, oder die emphatische Erzählweise von „Beate und Serge Klarsfeld: Die Nazijäger“ (2021) von Pascal Bresson und Sylvain Dorange, die sehr nahe an der Lebens- und Liebesgeschichte ihrer Hauptfiguren und deren Kampf gegen das Vergessen und Verdrängen der faschistischen Verbrechen bleiben, die Spannungsdramaturgie von „Ein Match für Algerien“ (2021) von Javi Rey, Bertrand Galic und Kris, das zurückgeht ins Jahr 1958, in dem sich elf französische Fußballspieler insgeheim zusammentaten, um als symbolische Geste gegen den fortdauernden Kolonialismus eine Nationalmannschaft zu gründen, und nicht zuletzt eine Selbstreflexion des Mediums wie in „Ein iranischer Albtraum“ (2013), die autobiografische Geschichte des Autors Mana Neyestani, der eine einfache grafische Geschichte über einen Jungen und eine Kakerlake erfindet und sich dadurch politisch so verdächtig macht, dass er Gefängnis, Flucht und Exil erleben muss. Erst hier wird er zum bewusst politischen Künstler.

Weite und Vielfalt der Gattung Comic-Journalismus belegen wohl, dass es sich dabei um mehr handelt als eine kurzfristige Mode. Vom karikaturistischen bis zum realistischen Stil reichen die Zeichnungen, von der reinen grafischen Erzählung bis zu Hybrid-Formaten, bei denen Zeichnungen und Fotografien miteinander verbunden werden oder eine Comic-Reportage mit umfangreichem Begleitmaterial verknüpft, wie zum Beispiel in „Mit dem Elefantendoktor in Laos“ (2013) von Olivier Kugler.

Seite aus Guy Delisles „Lehrjahre“ (Reprodukt)

Der frankokanadische Zeichner Guy Delisle gehört zu den Wegbereitern der Gattung des dokumentarischen Comics. Im Gegensatz zu Joe Sacco pflegt er in seinen Geschichten einen karikaturhaft vereinfachenden Stil und sieht aus einer oft selbstironischen „privaten“ Perspektive auf die sozialen und politischen Strukturen, die das Leben der Menschen beeinflussen. 2005 begleitet Delisle seine Frau, die für die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen arbeitet, nach Birma und zeichnet auf, was er von den Verhältnissen dort sieht, 2007 folgt die Dokumentation eines längeren Aufenthalts der inzwischen auf vier Personen angewachsenen Familie in Israel, und während sich Delisle mit den Konflikten und Hintergründen der schwierigen Stadt Jerusalem beschäftigt, muss er sich auch um Haushalt und Kinder kümmern und mit den prekären Arbeitsbedingungen eines Comic-Zeichners zurechtkommen. Wenn es etwas gibt, was wirklich kein anderes Medium so gut wiedergeben kann wie der Comic, dann ist es die mannigfache Verbindung von Privatem und Politischem.

„Lehrjahre“ nun ist auf der einen Seite eine biografische Jugendgeschichte – die drei Sommer, die der junge Guy in der Zellstoff-Fabrik arbeitet, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen (und wo er seinen Vater wiedertrifft, der die Familie verlassen hat) –, auf der zweiten Ebene eine „Industrie-Reportage“, in der wir sehr genau erfahren, wie Arbeitsabläufe bei der Papierherstellung organisiert sind und was das mit Menschen und der Umwelt macht, und auf einer dritten Ebene eine Selbstreflexion des Mediums, die auch nach den Grenzen seiner Kommunikationsform fragt, auch nach den Grenzen der Solidarisierung zwischen Fabrikarbeitern und einem Grafik-Studenten, der vielleicht nicht genau weiß, wie er später sein Geld verdienen wird, aber umso genauer, dass er den Rest des Lebens nicht zwischen den Riesenwalzen und den Fernsehpausen verbringen wird.

Dokumentarische Comics, grafische Reportagen, Comic-Journalismus, das ist nicht nur eine neue Form eines „Newest Journalism“, die alle Möglichkeiten des Mediums ausschöpft, um der äußeren Wirklichkeit die Momente der Wahrheit abzugewinnen, und die ganz direkt nach den richtigen Einstellungen, Perspektiven und Verbindungen sucht, es ist auch das Medium einer kritischen Untersuchung von Wahrnehmung, Erinnerung und Fiktionalisierung. Es geht nicht nur um das Bild der Wirklichkeit, sondern auch um die Entstehung, manchmal auch um das Verlieren dieses Bildes. Comics, dieses gleichsam von Natur aus selbstreflexive Medium, eignen sich hervorragend, dem allfälligen Zweifel an der Wirklichkeit mit einer Haltung zu begegnen, die sich ihrer Nachhaltigkeit bewusst ist. Allein die Geste, sich hinzusetzen, um Eindrücke, Details, Ereignisse, vielleicht auch sich selbst mittendrin zu Papier zu bringen, ist ein Akt des Widerspruchs gegen „Overnews and Underinformation“. Und anders als die Fernseh- und Zeitungsbilder sind es Bilder, die bleiben, die sich der Nachprüfung stellen, die sich durch eine abgeschlossene Form autorisieren, die ihre Autorinnen und Autoren kompromisslos verantwortlich machen. Und noch eines: Filmen, Fotografieren, Benennen kann man verbieten. Zeichnen nicht.

Dieser Beitrag erschien zuerst in: Freitag 28/2021

Georg Seeßlen, geboren 1948, Publizist. Texte über Film, Kultur und Politik für Die Zeit, Der Freitag, Der Spiegel, taz, konkret, Jungle World, epd Film u.v.a. Zahlreiche Bücher zum Film und zur populären Kultur, u. a.: Martin Scorsese; Quentin Tarantino gegen die Nazis. Alles über INGLOURIOUS BASTERDS; Blödmaschinen. Die Fabrikation der Stupidität (zusammen mit Markus Metz); Tintin, und wie er die Welt sah. Fast alles über Tim, Struppi, Mühlenhof & den Rest des Universums; Sex-Fantasien in der Hightech-Welt (3 Bände), Das zweite Leben des ›Dritten Reichs‹. (Post)nazismus und populäre Kultur (3 Bände), Liebe und Sex im 21. Jahrhundert. Streifzüge durch die populäre Kultur. Ende August erscheint von ihm „Coronakontrolle. Nach der Krise, vor der Katastrophe“ bei Bahoe Books.