Ein Barbar im urbanen Elend – „Berserker Unbound“

Bastardkönig, Barbar, Berserker – unser Held trägt zwar keinen Namen, dafür aber viele Titel. Als der mächtige Krieger von imposanter Statur endlich wieder zu seiner Familie zurückkehrt, findet er Frau und Tochter niedergemetzelt vor. Sogleich wird auch er angegriffen, schafft es jedoch, sich der Übermacht zu erwehren. Doch die Gegner sind zu zahlreich, selbst für ihn. So flieht er in eine unbekannte Höhle. Dort entdeckt er magische, neon-leuchtende Runen an der Wand und findet sich nach einer Ohnmacht an einem anderen Ort wieder. Und in einer anderen Zeit. Nämlich der unsrigen. Hier, im Wald am Rande der Großstadt, haust der obdachlose Joe Cobb, der den bewusstlosen und verletzten Berserker aufsammelt. Bald bilden die beiden ein ungleiches Paar: der eine groß und kräftig, der andere schmächtig. Man spricht verschiedene Sprachen, versteht jeweils kein Wort und freundet sich dennoch an. Bis die „Idylle“ jäh gestört wird…

Jeff Lemire (Autor), Mike Deodato Jr. (Zeichner): „Berserker Unbound“.
Aus dem amerikanischen Englisch von Katrin Aust.
Splitter Verlag, Bielefeld 2020. 136 Seiten. 19,80 Euro

In seiner vierteiligen Miniserie, die im Original bei Dark Horse erschien und nun bei Splitter in einem Band zusammengefasst ist, nimmt sich der Kanadier Jeff Lemire (aktuell u. a. „Ascender“, „Black Hammer“, „Gideon Falls“) dem Fantasy-/Sword & Sorcery-Genre an und verwurstet dabei diverse Motive, ohne diese groß kaschieren zu wollen. Dazu gesellt sich ein Culture Clash, garniert mit diversen aufwendig inszenierten Schlacht- und Kampfszenen. Und den Humor vergisst Lemire auch nicht. Einen archaischen Kraftprotz, der in unsere Zivilisation versetzt wird, gab es schon 1970, als Arnold Schwarzenegger reichlich unbeholfen (und akustisch unfassbar unfreiwillig komisch) den Herkules in New York gab (umgekehrt gab’s das auch – von der „Zivilisation“ ins Unbekannte, siehe beispielsweise „John Carter“). Doch ist der Berserker hier weit entfernt von jeder Göttlichkeit, vielmehr erinnert er – voll beabsichtigt – an die Figur des Conan, den berühmten Barbaren, den Robert E. Howard erdachte.

Aussehen, Haarpracht und Ausrüstung können und sollen den barbarischen Urahn nicht verneinen. Auch ein wunderbarer Gag nimmt Bezug auf die erste Conan-Verfilmung bzw. direkt auf Herrn Schwarzenegger. Ein anderer – das mag nicht jedem mehr geläufig sein – nimmt den Schmalzroman-Coverhelden der 80er Jahre aufs Korn, denn Joe nennt seinen neuen Kumpel „Fabio“. Spaß macht der Band vor allem wegen der aufgezeigten Gegensätze, nicht nur in der Physiognomie der beiden Hauptakteure: Während der Berserker seine Monologe in typischem Barbaren-Sprech vorträgt (den Hexerkönig in der Goldenen Stadt töten, Rache etc.), geht es bei Joe meist um banale Dinge wie Sattwerden und Einsamkeit. Und als die beiden in die Stadt marschieren, will Joe von der örtlichen Tafel Essen organisieren, während „Fabio“ glaubt, man treffe einen „Runenmeister“, der die Rückkehr in seine Zeit ermöglicht. Doch verbinden die beiden auch Gemeinsamkeiten: Auch Joe hat seine Familie tragisch verloren und ist aus der Bahn geraten, wenn auch nicht zeitlich, sondern gesellschaftlich. Und später wird der Berserker selbst Gelegenheit haben, seine Schuld gegenüber Joe zu begleichen.

Trotz der Originalität wünscht man sich beim Lesen, dass Lemire hier und da beim Plot etwas mehr in die Tiefe gegangen wäre. Alles geht sehr schnell und fühlt sich immer wieder wie eine (zweifelsohne gekonnte) Fingerübung an – oder eine furiose Achterbahnfahrt, die zu früh vorbei ist. Ein großes Pfund sind die Zeichnungen des Brasilianers Mike Deodato Jr., der seit Jahrzehnten erfolgreich im US-Markt unterwegs ist (wer erinnert sich noch an seinen Besuch beim Comicsalon in Erlangen 1998?). Ruhige, stimmige Panels (auch Dank der Kolorierung von Frank Martin) wechseln sich ab mit epischen Schlachtpanoramen über Doppelseiten hinweg, die kraftvoll und dynamisch daherkommen. Dazu verwendet Deodato neben feinen Linienstrukturen immer wieder Raster, die den Bildern zusätzliche Tiefe verleihen. Diverse Variant-Cover (u. a. von Mike Mignola und „Descender“/“Ascende“-Zeichner Dustin Nguyen) und einige schwarz-Weiße Skizzenseiten beschließen den Band. Wer weiß, vielleicht kehren Lemire und Deodato irgendwann zu ihrem Berserker zurück. Genügend unbenutzte Runen gäbe es jedenfalls noch.

Dieser Text erschien zuerst auf: Comicleser.de

Bernd Weigand ist schon über vier Jahrzehnte in Sachen Comics unterwegs: lesen, sammeln, übersetzen. Schreibt auch seit 20 Jahren über Comics, seit 2010 auf comicleser.de.

Seite aus „Berserker Unbound“ (Splitter Verlag)