„Popmusik und Comic kommen beide aus der unteren Schublade“

Über 30 Jahre war die deutsch-französische Sängerin, Zeichnerin und Autorin Françoise Cactus schillernder, quirliger Teil der (West-)Berliner Musik- und Kunstszene, ob als Sängerin der Garage-Punk-Combo Lolitas oder des Trash-Chanson-Duos Stereo Total an der Seite ihres Lebenspartners und Multiinstrumentalisten Brezel Göring. Unvergessen auch ihr Kunst-Schabernack und Kleinkrieg gegen die Berliner Boulevardpresse mit der lebensgroßen Häkelpuppe Wollita. Im Februar 2021 verstarb die Cactus mit nur 57 Jahren. Der Mainzer Popkultur-Verlag Ventil erinnert an die Sängerin und feiert Stereo Total mit der Comic-Anthologie „Stereo Total’s Party Anticonformiste – 10 Songcomics“, die aus den Texten von Françoise Cactus wunderbare, zu Herzen gehende Comic-Miniaturen macht. Zehn Freund*innen und Fans haben sehr persönlich ihren Lieblingssong aus über 25 Jahren Bandgeschichte visualisiert. Und auch von Cactus selbst ist ein Comic im Buch – eine von ihr gezeichnete Umsetzung des Liedes „Comic Striptease Girl”. Darüber hinaus hat Stereo-Total-Musiker Brezel Göring zu jedem Song persönliche Erinnerungen an Françoise Cactus beigesteuert und liefert Einblicke in ihr zeichnerisches Schaffen mit Auszügen aus ihrem persönlichen Illustrationsbuch. Folgend präsentieren wir das Presse-Interview mit Göring und Herausgeber Jonas Engelmann.

Eigene Lieder visuell umgesetzt betrachten zu können, ist für Musiker:innen ja meist nur bei Musikvideos möglich. Wie war das für dich, die Songcomics zu sehen?

Brezel Göring: Die Comix sind alle gut gelungen und sehen fabelhaft aus. Das Format „Songcomic“ gefällt mir auch, das hat einen gewissen Guerilla-Charme. Für so ein Musikvideo sind ganz schön viele Mittel notwendig. Lampen, Kamera, eventuell Akteure, Kulissen… Das muss dann erst mal so aussehen, wie du es in deinem Kopf geplant hast. Schwierig, vor allen Dingen, wenn du anspruchsvoll bist. Ein Song-Comic ist dagegen viel eleganter. Und es ist subversiver: Das viele Geld, das die Filmerei verschlingt, ist nicht notwendig, du kannst dich hinsetzen und sofort loslegen. Da sehe ich im übrigen auch eine Verwandtschaft zur Musik. Also zu der Sorte Musik, die ich mache.

Welche Parallelen siehst du zwischen Comics und Popmusik? Gibt es überhaupt welche?

Na ja, beides arbeitet mit sanfter Übertreibung! Dazu die Farben, die visuellen Attraktoren, die schrillen Details, die die Aufmerksamkeit fesseln… Ich sehe da Ähnlichkeiten! Und das Beste: Sie kommen beide aus der unteren Schublade. Ich formuliere es mal vorsichtig: Popmusik genießt nicht dieselbe Hochachtung wie Beethoven und ein Comic nicht die von Shakespeare. Im bildungsbürgerlichen Wertekanon rangieren beide ziemlich weit hinten. Wer Popmusik macht oder einen Comic zeichnet, der hat auch Spaß daran, den hohlen Ernst der Hochkultur auszulachen. Ich glaube, inzwischen ändert sich das sogar, und das halte ich für ein schlechtes Zeichen.

Wer hat die Auswahl der Songs getroffen? Du, der Verlag oder die Zeichner:innen?

Wir haben versucht, Zeichnerinnen und Zeichner auszusuchen, die Françoise gerne gelesen und geschätzt hat. Mein Beitrag zur Auswahl der Lieder war, dass ich mich nicht eingemischt habe. Was vermutlich viel zum Gelingen des Projektes beigetragen hat…

Haben dich einige der Arbeiten überrascht? Im Sinne von: Da wäre ich jetzt nie drauf gekommen?

Na, wenn Françoise und ich im Bild auftauchen, das hat mich überrascht. Irgendwer hat mal gesagt, es sei für Musiker von Vorteil, wenn sie mit wenigen Pinselstrichen zu charakterisieren seien. Das ist gelungen!

Über welche Band, außer über deine eigene, würdest du gerne einen Comic haben?

Da gibt es einige! Östro 430 zum Beispiel. Lieder wie „Idi Otto“ oder „Sexueller Notstand“ als Comic? Also, ich würde sofort mein Portemonnaie rausreißen und das Heft kaufen!

Spielen oder spielten Comics abseits dieses Projekts eine Rolle in deinem Leben? Wenn ja, welches sind deine Lieblingscomics?

Letztes Jahr bin ich für einige Monate nach Frankreich gezogen – zur Abreise hat mir ein Freund einen Comic von Tardi und Manchette geschenkt, über einen Mann, der eine Irrfahrt durch Frankreich unternimmt und dabei von Killern gejagt wird. Und er weiß natürlich überhaupt nicht, warum. Die Geschichte passte zu meiner Situation und meinem Gemütszustand. Mein Lieblingscomic? Schwer zu sagen. Da gibt es viele. Ich wähle jetzt mal – hauptsächlich des Namens wegen: „Chicks with dicks“.

Welche Comicfigur ähnelt dir am meisten? Oder welcher Charakter wärst du gerne?

Natürlich Lisa, die desorientierte Freundin der Hauptfigur des Comics „Hate“. Also, die ähnelt mir. Wenn ich es mir aussuchen könnte, dann wäre ich natürlich lieber Lucky Luke. Bin ich aber leider nicht, haha.

Welches war der erste Comic, den du dir gekauft hast? Und welcher der letzte?

Mein erster Comic überhaupt? Huch! Wahrscheinlich ein „Lurchi“ oder diese grenzdebile Scheiße wie „Medi und Zini“. Das bekamen die Kinder beim Zahnarzt oder so. Der letzte, den ich gekauft habe? „Voll auf die Nüsse“ von Robert Crumb. Nee, stimmt nicht. Der „Captain Berlin“-Super-Sammelband von Jörg Buttgereit. Habe ich aber leider gleich weiterverschenkt.

Welche drei Comicalben muss man haben?

„Les pieds nickèles“ (drei kleinkriminelle Verlierer, die am Ende immer gewinnen), „Freak Brothers“ (drei entsetzliche Chaoten versuchen, sich anzutörnen), „Wie ein samtener Handschuh in eisernen Fesseln“.

Herausgeber Jonas Engelmann im Gespräch

Die Stereo-Total-Songcomics sind das zweite Projekt dieser Art nach dem Tocotronic-Songcomic „Sie wollen uns erzählen“. Wie bist du darauf gekommen, diese Band für diese Serie auszuwählen?

Jonas Engelmann: Die Idee, die Songcomics als Reihe zu betrachten, war nach dem erfolgreichen Tocotronic-Band recht schnell klar. Der Folgeband sollte eine Gruppe abbilden, die sowohl von ihrem Auftreten als auch ihren Texten ein Kontrast zum ernsten und getragenen Ton von Tocotronic ist. Es soll ja nicht zu eintönig werden. Stereo Total sind als Idee immer wieder aufgepoppt, wir hatten als Verlag mit der Band immer wieder Berührungspunkte, zuletzt hatte ich mit Françoise vor ein paar Jahren eine Gedenklesung für den 2010 verstorbenen Martin Büsser. Als dann aber im Februar 2021 der Tod von Françoise zu verarbeiten war, schien es mir nicht mehr passend, die Idee weiterzuverfolgen. Aber im Sommer sind wir dann zusammen mit Tapete Records, wo ja auch eine Box mit den ersten Alben der Band erschienen ist, an Brezel herangetreten, der sofort begeistert war. Das Überdrehte, Ironische und gleichzeitig Subversive, was ja Comics auch auszeichnet, passt einfach perfekt zu Stereo Total. Dass beide dann auch noch Comicfans waren und Françoise ja auch selbst gezeichnet hat, hat es noch stimmiger gemacht.

Hast du die Auswahl der Zeichner:innen getroffen oder war die Band und ihr Umfeld involviert?

Letztlich hat Brezel die eine Hälfte der Zeichner angesprochen und ich die andere. Bei denen, die Brezel ausgewählt hat, war der persönliche Bezug zu ihm und Françoise wichtig, das sind Menschen, die schon Cover gestaltet haben, oder anders eng mit der Band verbandelt sind. Die Zeichner, die ich angesprochen habe, haben als Fans von außen auf die Band geblickt, und so hat sich eine sehr schöne Mischung aus Nähe und Distanz in den Blicken ergeben, die aber alle von der großen Verbundenheit zur Musik von Stereo Total zusammengehalten werden.

Gab es einen Songtext, bei dem du gedacht hast, das lässt sich nicht als Comic umsetzen, und von dem du überrascht wurdest?

Da die Zeichner:innen sich selbst ihre Lieblingssongs ausgesucht haben, dachte ich bei keinem, dass die Umsetzung scheitern könnte oder sich ein Text nicht umsetzen ließe. Ich finde es vielmehr erstaunlich, wie verschieden die Zugänge geraten sind und wie unterschiedlich mit den Songtexten umgegangen worden ist: Die einen haben, wie z. B. Ricaletto, abgebildet, was im Text erzählt wird, der Inhalt von „Divines Handtasche“, andere wie Eva Müller haben um den Songtext herum eine Geschichte gestrickt, und wiederum andere haben kleine Musikvideos in Comicform umgesetzt. Überrascht im positivsten Sinne, war ich von jedem Beitrag – und noch einmal ganz besonders von Brezels persönlichen Liner Notes.

Gunther Buskies / Jonas Engelmann (Hg.): „Stereo Total’s Party Anticonformiste. 10 Songcomics“. Ventil Verlag, Mainz 2022. 128 Seiten. 25 Euro