Der Astronaut im Spukhaus: kein Ring da

Mathieu Bablet zeigt, wie viel gegenwartspolitische Sprengkraft in moderner Science Fiction steckt, Étienne Davodeau inspiziert Frankreichs Natur, Liv Strömquist zerlegt die Astrologie, Léa Murawiec bringt in ihrem Debüt die Logik der digitalen Aufmerksamkeitsökonomie zu einem dystopischen Ende. Und die Comicfestivals der Zukunft finden auf dem Mond statt. Eindrucksvolle, liebenswerte und diskutable Phantastik-Comics des ersten Jahresviertels.

Mathieu Bablet: Carbon & Silizium

Schon in „Shangri-La“ (2021) hat der französische Comickünstler Mathieu Bablet (noch eine Spur zu plakativ) deutlich gemacht, dass er seine dystopische Science Fiction als Instrument der Gegenwartsdiagnose verstanden wissen will. Im 270-seitigen Nachfolgebrocken „Carbon & Silizium“ hat er seine Themen im Griff und legt einen der besten SF-Comics dieses Jahrzehnts vor, so viel kann man prophezeien.

Auftakt in der KI-Werkstatt, erste Frage der Wissenschaftlerin an die neue Schöpfung: „Und, was ist der erste Gedanke, den ihr mit uns teilen wollt?“ „Die Menschen sind das wahre Problem der Erde, die einzige Lösung ist, sie auszulöschen.“ „W…was?“ „Ein Scherz! (…) Keine Sorge, ihr wisst doch sowieso schon, wie es mit euch enden wird, oder? Wir verurteilen euch nicht, ihr macht, was ihr wollt.“ Dieses Wir sind Carbon und Silizium, die ersten beiden KI aus dem Silicon Valley, die zur kommerziellen Verwertung entwickelt wurden. Und zum Verurteilen der Menschen werden sie noch allen Grund haben. Dank ihrer technischen Beschaffenheit gönnt ihnen der Plot eine 271 Jahre währende Odyssee über den Planeten, genug Zeit, um sich von freundlichen, lernbegierigen Helfern zu desillusionierten Misanthropen zu entwickeln (die Vernichtungsnarrative des Genres sind dabei nicht vorgesehen). Der Clou liegt in den Zeitsprüngen, die manchmal 20, 30 Jahre umfassen: Die zivilisatorische und technologische Entwicklung der Menschheit ist stetes Hintergrundrauschen, ihr jeweiliger Stand will aus dem Benehmen der KI abgeleitet werden, die sich, wie jedes Individuum, mit den Jahren physisch und identitär verändern, mal um Gleichberechtigung kämpfen, mal die erstrittenen Rechte politisch verteidigen müssen, mal in Eskapismus, mal in Aktivismus flüchten, mal in Drogen, mal in Forschung ihr Heil finden. Bablet liefert keine konstante Auf- oder Abwärtskurve, sondern bleibt unaufgeregt diffus. Aber die ausgedörrten Farben kündigen dennoch die qualvolle Anomie einer Welt an, der der Kapitalismus sozial, ökologisch und kulturell zum Verhängnis geworden ist. Wie die beiden Roboter dies langsam realisieren müssen, ist nicht nur wohldurchdacht qualvoll, sondern eignet sich als erschreckend treffsicherer Kommentar zu einer sich in die Verrohung verdrängten Gegenwart, in der Klimakleber mehr Zorn hervorrufen als die ignorierten bevorstehenden Katastrophen, vor denen sie sich fürchten.

Mathieu Bablet: Carbon & Silizium • Splitter, Bielefeld 2023 • 272 Seiten • Hardcover • € 45,00

Léa Murawiec: Die große Leere

Die Zürcher Edition Moderne hat sich seit David Baslers Staffelübergabe an die jüngere Verleger*innengeneration zu einem kleinen Labor für avantgardistisch beflissene SF-Comics entwickelt. „Die große Leere“, das mehrfach preisgekrönte Graphic-Novel-Debüt der französischen Zeichnerin Léa Murawiec, ist der nächste Wurf. Optisch ein farbminimalistischer Hybrid aus Manga- und Cartoon-Einflüssen, inhaltlich ein latent dystopischer Zukunftsentwurf mit satirischen Anklängen.

Das Leben in einer Metropole von morgen steht vollständig unter dem Druck der Aufmerksamkeitsökonomie: Nur mediale Präsenz führt zu Anerkennung, ist nicht nur der Gradmesser für ein gutes Leben, sondern die zentrale Identitätsstütze. Im wahrsten Sinne, denn als die Protagonistin Manel Naher herausfindet, dass eine Prominente denselben Namen wie sie trägt, steht ihre Existenz auf dem Spiel. Murawiec entwirft eine Gesellschaft, die als Heilkraft für dieses lebensbedrohliche Dilemma nur den Ausweg zulässt, den technologischen Selbstdarstellungsdruck entweder zu erhöhen oder zu sterben. Identitäre Dauerselbstoptimierung als Säule der psychischen Gesundung, kollektive Fremdwahrnehmung als Ticket ins individuelle Glück, das Leben ein existentieller Wettbewerb um Aufmerksamkeit – der Neoliberalismus ist dem Plot offensichtlich längst auf der Spur. Murawiec reicht ihm nur ein paar weitere Werkzeuge.

Léa Murawiec: Die große Leere • Edition Moderne, Zürich 2023 • 208 Seiten • Hardcover • € 34,00

Étienne Davodeau: Das Recht der Erde

Schon in „Lulu, die nackte Frau“ (2012) beschreibt Étienne Davodeau anhand der 40-jährigen Lulu, die sich dem omnipräsenten Rückzug in die Nestwärme der Familie widersetzt, ganz beiläufig, was der Kapitalismus aus Menschen macht, die seinen Produktivitätsgesetzen nicht folgen. Im Nachfolger „Die Ignoranten“ wiederum versucht er die Anziehungskraft des Comics und des Weines mit dokumentarischen Mitteln engzuführen. In „Das Recht der Erde“ nun besingt Davodeau die Schönheit der Natur, begibt sich sozusagen ins Feld und wandert 800 km von der Höhle Pech Merle im Süden bis nach Bure im Norden Frankreichs – von der Höhlenmalerei der frühen Sapiens zum Atommüllendlager ihrer heutigen Abkömmlinge. Unterwegs spricht er mit Wissenschaftler*innen und Expert*innen, um unserem Verhältnis zur Erde auf die Spur zu kommen und streift immer wieder die noch präapokalyptische Frage, warum viele Menschen für den kurzfristigen Erhalt des Gewohnten das Ende all ihrer Lebensgrundlagen in Kauf nehmen. Schon jetzt einer der interessantesten Titel des Jahres.

Étienne Davodeau: Das Recht der Erde • Carlsen, Hamburg 2023 • 216 Seiten • Hardcover • € 27,00

Arnaud Delalande, Éric Liberge: Fritz Lang. Die Comic-Biografie

Der Biografie-Hinweis im Untertitel dieses Comics über Fritz Lang ist etwas irreführend, tatsächlich fokussieren sich Zeichner Éric Liberge und Szenarist Arnaud Delalande ausschließlich auf die Zeit vor Langs USA-Exil. Diese Konzentration auf die deutsche Phase verhindert zum Glück eine Standard-Bio mit Wikipedia-Ehrgeiz, aber aus den Seiten dringt allseits das dunkle Pathos des Hitlerismus Knopp’scher Provenienz. Immer wieder drängt der Gröfaz ins Bild, ikonisch statt despotisch, um Zeitgeist zu illustrieren und mehr noch Schauder zu erwecken, die Bildästhetik adelt ihn nahezu ergriffen zum Posterboy, der grimmig auf die Konflikte der Weimarer Republik herabblickt. Konflikte, die auch das Paar Lang/von Harbou spätestens bei der Produktion von „Metropolis“ voneinander entfremden, ein Widerstreit zwischen künstlerischer Integrität und Kollaboration: Harbou ließ sich im Gegensatz zu Lang liebend gerne von den Nazis umgarnen. Eine ästhetisch standhafte Methode finden Liberge und Delalande dafür leider nicht. Auch nicht im Text. Frisch aus dem Knast entlassen denkt sich Hitler, was ein frisch aus dem Knast entlassener Hitler eben so denkt, wenn er die Leser*innen im Jahr 2023 infotainen soll (sogar mit dramatischer Pause): „Meine Inhaftierung hat am Ende nur wenige Monate gedauert. Aber ich habe sie genutzt, um zu lesen und zu schreiben. Nietzsche, Chamberlain, Ranke, Treitschke, Marx, die Memoiren von Bismarck… die Nibelungen.“ Eine Seite zuvor brüllt Lang bei den „Nibelungen“-Dreharbeiten zackig Anweisungen inklusive expressionistischer Absichten ins Megafon: „Der Expressionismus ist die Übertreibung aller Stimmungen und Gefühle, damit der Zuschauer die größtmögliche Gefühlsdichte erlebt. Ist da so schwer zu verstehen? Und wir sind der deutsche Expressionismus, der sich von der Realität löst, um sie den Seelenzuständen des Künstlers Untertan zu machen.“

Arnaud Delalande, Èric Liberge: Fritz Lang. Die Comic-Biografie • Knesebeck, München 2023 • 112 Seiten • Hardcover • € 25,00

Art Spiegelman, Robert Coover: Street Cop

Kürzlich feierte Art Spiegelman seinen 75. Geburtstag und meldet sich mit einer (in den USA bereits 2021 veröffentlichten) illustrierten Geschichte des US-amerikanischen Schriftstellers Robert Coover zurück. „Street Cop“ ist die Verschiebung heutiger Vorboten hin zur weltumspannenden Techno-Katastrophe: Ein ahnungsloser Polizist und früherer Krimineller stolpert durch eine technisch hochgerüstete Zukunft, die er nicht mehr versteht, weil sie sich dank avancierter 3-D-Druckverfahren laufend verändert, und wünscht sich hauptsächlich sein altes Viertel herbei, in dem es noch im Rhythmus der alten Noir-Gesetze krachte. Auftakt für Spiegelman und seine, wie er es nennt, „Nostalgie für die Gosse“. Seine Bilder sind ein Referenzspiel mit der Comicgeschichte und zitieren Klassiker wie „Little Nemo“, „Blondie“, „Betty Boop“ und die rüden EC Comics, installiert als politisiertes Ringen mit der Wehmut, als Teil einer vergangenen Kultur, von der niemand, auch nicht der Street Cop, mehr so recht sagen kann, ob sie tatsächlich mal besser war oder nur die Angst vor der Gegenwart besser zu kontrollieren hilft.

Art Spiegelman, Robert Coover: Street Cop • Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2023 • 132 Seiten • Softcover • € 22,00

Gou Tanabe: Der Außenseiter und andere Geschichten

Der japanische Manga-Künstler Gou Tanabe bannt Lovecraft so berauschend eigenwillig aufs Zeichenpapier, da kann nur Breccia mithalten. Ein Schraffurenrausch, aus dem sich naturalistische Figuren und Monstren herausschälen, das konnte man bereits in „Schatten über Innsmouth“, „Cthulhus Ruf“, „Der Schatten aus der Zeit“, „Berge des Wahnsinns“, „Die Farbe aus dem All“ und zwei Kurzgeschichten-Bänden bewundern. Warum in letzteren nicht auch die vorliegende Lovecraft-Kurzgeschichte „Der Außenseiter“ gelandet ist, weiß nur der Verlag. Inhaltlich kommt sie ganz ohne kosmische Wucht aus, der Protagonist entsteigt seinem Gefängnis und findet auf ziemlich traurige Weise heraus, dass er nicht der ist, für den er sich gehalten hat. Dass der Pulp-Phantast Lovecraft ansonsten in diesem Band zwischen Tschechow und Maxim Gorki gebettet wird, ist eine herrliche Chuzpe für sich.

Gou Tanabe: Der Außenseiter und andere Geschichten • Carlsen Manga, Hamburg 2023 • 208 Seiten • Hardcover • € 14,00

Francois Schuiten, Benoît Peeters: Nach Paris – Gesamtausgabe

Das belgisch-französische Künstlerduo Schuiten/Peeters hat mit seinem 1983 begonnenen Zyklus „Die geheimnisvollen Städte“ ein faszinierendes Comic-Universum entwickelt, in dem die Protagonisten wie kafkaeske Figuren durch (bald) vergangene Metropolen aus futuristischer Monumentalarchitektur streifen und allmählich der Absurdität ihrer meist misslichen Situation gewahr werden. „Nach Paris“, ursprünglich 2014 und 2016 erschienen, ist nicht Teil des Städte-Zyklus, fühlt sich aber an wie ein später Gruß an diesen Höhepunkt ihres Œuvres, auch wenn der gewohnt auf Lücken setzende Ton der Erzählung – Karinh will den restriktiven Verhältnissen einer Raumkolonie entkommen und verpflichtet sich für eine Expedition zur Erde, um endlich Paris zu sehen – nicht mehr die einstige metaphorische Geschlossenheit erreicht. Die zwei Alben sind nun als um Bonusmaterial angereicherte Gesamtausgabe erneut erschienen.

Francois Schuiten, Benoît Peeters: Nach Paris – Gesamtausgabe • Schreiber & Leser, Hamburg 2023 • 144 Seiten • Hardcover • € 34,80

Liv Strömquist: Astrologie

An „Die große Leere“ ließe sich mit Liv Strömquists neuem Comicessay prima anknüpfen. Es geht um Astrologie und die Frage, wofür selbige eigentlich ein Symptom ist und warum sie gerade jetzt einen Aufschwung erlebt. Unter den theoretischen Stichwortgebern befindet sich Adorno und grundsätzlich ist der analytische Weg zu den Zerfallserscheinungen des Kapitalismus nicht weit. Ein Erklärungsansatz lautet, dass „in einer Ära extremen Narzissmus‘ Astrologie eine weitere Möglichkeit bietet, sich obsessiv mit dem eigenen Ich zu befassen“. Eine weitere, dass „die randomisierten, chaotischen, erlogenen Antworten der Astrologie das einzige sind, was in Zeiten radikaler Ungewissheit glaubwürdig erscheint“. Wie eine Art degenerierte Vernunft bietet sich die Astrologie als Substitut der Erklärung von gesellschaftlichen Prozessen an, die wir individuell nicht beeinflussen können, und da ist es letztlich eins, ob der rückläufige Merkur eine Wirtschaftskrise auslöst oder ein unentwirrbares Finanzsystem. Weil wir in einer Gesellschaft leben, in der Rationalität und Irrationalität parallel existieren, ist die Astrologie eine Abbildung dieses Paradoxons. Wie immer findet Strömquist für ihre (oftmals geliehenen) Thesen schreiend komische Beispiele, ein Minimalmakel wäre höchstens, dass diesmal die Bildebene dem Text nur noch selten eine zusätzliche Pointe verleiht.

Liv Strömquist: Astrologie • Avant-Verlag, Berlin 2023 • 176 Seiten • Softcover • € 22,00

Alexandre Clérisse: Lose Blätter

Ein Kopist des ausgehenden Mittelalters fragt sich: „Wie würde die Welt sein in fünf Jahrhunderten? Könnten die Bilder sich auf dem Pergament bewegen? Wäre vielleicht das Pergament selbst infrage gestellt?“ Ein zwölfjähriger Nachwuchszeichner der Gegenwart findet in einer Abtei alte Drucklettern und erlebt seinen ersten großen Inspirationsschub. Eine Zeichnerin führt in den 2050er Jahren die berühmte Comicserie ihres Vaters fort, aber es läuft mit der Zeit immer schleppender. Um Hilfe kann sie ihn schlecht bitten, besucht er doch ein Comicfestival auf dem Mond (es könnte übrigens besser besucht sein). Und alle drei entspringen womöglich demselben kreativen Geist.

Der französische Zeichner Alexandre Clérisse ist in der Phantastik gut geschult: 2014 veröffentlichte er zusammen mit Szenarist Thierry Smolderen eine verspielte Biografie des unter dem Pseudonym Cordwainer Smith schreibenden SF-Autors Paul Linebarger. 2016 verbeugten sie sich in „Ein diabolischer Sommer vor den italienischen „Diabolik“-Comics und 2020 erschien „Ein Jahr ohne Cthulhu“, ihre Lesart des Lovecraft-Kosmos als wunderschöner Werbegrafik-Bildersog. „Lose Blätter“ ist Clérisses aktuelle Solo-Arbeit und fügt sich tadellos ins beeindruckende Gemeinschaftswerk – eine Reflexion über Künstler*innen der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, die mit sich und ihrer Umgebung hadern.

Alexandre Clérisse: Lose Blätter • Carlsen, Hamburg 2023 • 144 Seiten • Hardcover • € 25,00

Junji Ito: Frankenstein

Manga-Star Junji Ito ist ein Meister der surrealistischen Groteske, schließlich hat er uns mit „Uzumaki“ die Angst vor Spiralen eingeflößt. Bei Carlsen erscheint seit einigen Jahren eine schöne Ito-Hardcover-Bibliothek im einheitlichen Look. Der aktuelle Band enthält fast ein Dutzend Horror-Kurzgeschichten, die aus diversen Magazinveröffentlichungen zusammengetragen wurden, am umfangreichsten ist die Adaption von Mary Shelleys Roman. Diese nimmt sich aus wie eine auf den ersten Blick erstaunlich pflichtschuldige Ehrung, aber beim literaturhistorischen Urtext für Itos bizarres Kabinett der Körperdeformationen ist Demut vielleicht die beste Währung. Wir wissen ja längst, wozu er in der Lage ist.

Junji Ito: Frankenstein. Storys zwischen Wahn & Wirklichkeit • Carlsen Manga, Hamburg 2023 • 418 Seiten • Hardcover • € 24,00

Jacques Tardi: Adele Blanc-Sec Sammelband 3

Normalerweise arbeitet sich Jacques Tardi entweder am Ersten Weltkrieg ab oder versteht sich auf Adaptionen großer kriminalliterarischer Werke. Seine 1976 gestartete „Adele“-Serie kombiniert beides: Die emanzipierte und jeder Autorität misstrauende titelgebende Hauptfigur ist Autorin von Schundromanen, kommt ins Paris der Belle Epoque und löst fortan haarsträubendste Fälle, die noch den absurdesten Vertretern der Weird Fiction die Schuhe ausziehen. Und doch zieht sich durch alles ein tief sitzendes Geflecht aus Korruption und Verschwörung, aus Militarisierung und Faschisierung. „Adele Blanc-Sec“ erzählt, so Georg Seeßlen, vom „verkorksten Beginn der Moderne in der bürgerlichen Gesellschaft“ und ist eines der echten Meisterwerke des Mediums. Bei Schreiber & Leser erscheint nun der Abschluss der bibliophil aufbereiteten Gesamtausgabe und der jüngst veröffentlichte letzte Band sogar zusätzlich für alle, die bereits die Einzelalben der Edition Moderne im Regal stehen haben.

Jacques Tardi: Adele Blanc-Sec Sammelband 3 • Schreiber & Leser, Hamburg 2023 • 224 Seiten • Hardcover • € 39,80

P. Craig Russell: Der Ring des Nibelungen

Hierzulande kennt man P. Craig Russell vor allem durch seine Arbeiten mit Neil Gaiman: „Coraline“, „Nordische Mythen und Sagen“, „American Gods“ und natürlich „The Sandman“. Die erste bedeutende Phase seines Werks besteht allerdings aus einer Reihe Opernadaptionen, von denen bislang nur der „Zauberflöte“ 1991 eine deutsche Übersetzung in drei Alben vergönnt war. 32 Jahre später folgt Cross Cult mit dem ziegelsteindicken „Ring der Nibelungen“, für den Russell 2001 einen Eisner Award erhielt. Kompakt gesammelt ergibt das 450 Seiten Richard Wagner. Muss man aushalten können. Dabei hilft vielleicht der Gedanke, dass sich der glühende Antisemit angesichts eines schwulen Amerikaners, der aus seinem teutonischen Opus magnum eine Bildergeschichte macht, im Grabe umdrehen würde.

P. Craig Russell: Der Ring des Nibelungen • Cross Cult, Ludwigsburg 2023 • 448 Seiten • Hardcover • € 49,99

Lea Mazé: Die Gruftis

Das Marketing hinter dem Begriff Graphic Novel hat uns jahrelang eingebläut, dass Comic und Anspruch keine Gegensätze sind. Weil Kindercomic-Imprints derzeit sehr en vogue sind (selbst bei Verlagshäusern, die sich eigentlich als Prosalieferanten verstehen), müssen wir jetzt wieder lernen, dass man gezeichnete Geschichten auch Kindern und Jugendlichen zumuten kann. Beim zwölfjährigen Splitter-Imprint Toonfish wird deshalb verstärkt von (Semi-)Funnies auf Kinder- und Jugenderzählungen umgesattelt. Der Genre-Fokus ist aber weiterhin spürbar. „Die Gruftis“ von der französischen Zeichnerin Lea Mazé ist eine charmante Kriminal-Story mit Mystery-Einschlag. Mit cartooneskem, luftig-elegantem Strich schickt sie ihre beiden jungen Protagonisten, das Geschwisterpaar Clara und Colin, in die Mobbinghölle Schule und auf den Friedhof, wo ihre dauergestressten Eltern ein Bestattungsunternehmen betreiben. Und weil den Erwachsenen in dem stringent komponierten Setting wahrlich nicht zu trauen ist, stoßen Clara und Colin allseits auf taube Ohren, nachdem sie in einer Friedhofskapelle statt eines erhofften Schatzes die Spuren eines Mordes entdecken. Was folgt, ist ein Gottesacker-Krimi mit einem großen Herz für Außenseiter.

Lea Mazé: Die Gruftis • Toonfish, Bielefeld 2022 • 240 Seiten • Hardcover • € 39,95

Erwan Courbier, Benoit Dahan: Psycho Investigator Band 2 – Das Erbe des Hundertjährigen

Benoit Dahans „Im Kopf von Sherlock Holmes“, 2021 veröffentlicht, erwies sich als betörendes Formspiel des französischen Zeichners, das seinen Titel beim Wort nahm: In irrwitzigen, grandios überladenen Seitenkompositionen befanden wir uns mitten im Kopf des Doyle-Detektivs und verfolgten seine Gedankengänge beim Lösen eines Falls als freudianische Burleske. Nun schiebt der Splitter Verlag in zwei Bänden Dahans Debüt „Psycho Investigator“ hinterher, das auf allen ästhetischen Ebenen wie die Blaupause zu Sherlock anmutet. Diesmal folgen wir dem Psychoanalytiker Simon Radius, der ebenfalls allerlei Verdrängtes zutage fördert, indem er buchstäblich den Verstand seiner Patienten betritt. Dabei kann es sich auch mal um einen Kanarienvogel handeln, neben dessen Käfig ein Verbrechen stattfand. Stilistisch weitaus zurückhaltender als Sherlock, empfiehlt sich „Psycho Investigator“ für ungeübte Comicleser*innen als als Einstieg in Benoit Dahams Panelwelten.

Erwan Courbier, Benoit Dahan: Psycho Investigator Band 2 – Das Erbe des Hundertjährigen • Splitter Verlag, Bielefeld 2022 • 80 Seiten • Hardcover • € 25,00

Brian K. Vaughan, Fiona Staples: Saga Band 10

Brian K. Vaughan ist das Vorzeigegesicht der US-amerikanischen Creator-Owned-Comics. Als sein gemeinsam mit Zeichnerin Fiona Staples realisiertes Zentralwerk „Saga“ mit Branchenpreisen überhäuft wurde – darunter Eisner-, Harvey- sowie Hugo- und British-Fantasy-Awards –, war er bereits gestandener Drehbuchautor für die Fernsehserien „Lost“ und „Under the Dome“. Kürzlich folgten TV-Verfilmungen der von ihm geschriebenen Comics „Y: The Last Man“ und „Paper Girls“. Offensichtlich hat er den idealen Kompass, sich zwischen Comic und Film zu navigieren, gefunden. 2018, nach 54 „Saga“-Heften bzw. neun -Sammelbänden samt einer Cliffhanger-Option, stellten Vaughan und Staples eine mindestens einjährige kreative Pause von ihrer Space Opera in Aussicht. Daraus wurden letztlich rund vier Jahre, nun setzt Cross Cult mit dem zehnten Sammelband die Image-Serie fort.

Brian K. Vaughan, Fiona Staples: Saga Band 10 • Cross Cult, Ludwigsburg 2023 • 168 Seiten • Hardcover • € 22,00

James Tynion IV, Werther Dell’edera: Something is Killing the Children – Teil 5

Manchmal haben schlechte Nachrichten auch ihr Gutes. Der Meldung, dass „1899“, die Netflix-Nachfolgeserie der „Dark“-Showrunner Jantje Friese und Baran bo Odar, nicht fortgesetzt wird, folgte schon bald eine für Comic-Leser*innen erheblich erfreulichere Notiz: Statt Frust zu schieben, bereiten beide nun die nächste Netflix-Produktion vor (und dies, wie man liest, sehr gut dotiert): die TV-Verfilmung des Horrorcomics „Something is Killing the Children“. Süßer die Glocken nie klingen, denn James Tynion IV zeigt sich darin als rüder Zampano der Teenage Angst, wirft Kinder und Jugendliche in einer Kleinstadt Monstern, die von Erwachsenen nicht gesehen werden können, in grafisch ziemlich kompromissloser Weise zum Fraß vor. Den Weg musste „Stranger Things“ erst über mehrere Staffeln zurücklegen. Derweil kann man sich in die Comicserie einlesen, die bei Splitter mittlerweile den fünften Sammelband erreicht hat, in dem ein neuer Zyklus eingeleitet wird.

James Tynion IV, Werther Dell’edera: Something is Killing the Children – Teil 5 • Splitter Verlag, Bielefeld 2023 • 144 Seiten • Hardcover • € 22,00

Jérôme Le Gris, Benoit Dellac, Didier Poli: Hawkmoon Band 1 – Das schwarze Juwel

Bei Cross Cult erscheint mit „Corum“ eine US-amerikanische Reihe älteren Datums, die Moorcocks Werk in den Comic überträgt, beim Splitter Verlag findet sich mit „Elric“ eine zeitgenössische Adaption französischer Provenienz. Dasselbe Kreativ-Team startet nun den ersten vierbändigen Zyklus um Hawkmoon, einen der weiteren „Ewigen Helden“ Moorcocks. Wie schon bei „Elric“ ist das durchaus ein Fest für die Augen, ebenso aber auch eine um alle Ambivalenzen der literarischen Vorlage bereinigte Schlachtplatte, die, jedenfalls bislang, Hawkmoon zur standardisierten Genre-Rächerfigur komprimiert. Warum Moorcock einst zu den Initiatoren der britischen New Wave zählte, wird sich anhand dieses Serienauftakts jedenfalls nicht erschließen lassen. Bester Satz für den Titel eine Punkplatte: „Sei verflucht, Embryo der Finsternis!“

Jérôme Le Gris, Benoit Dellac, Didier Poli: Hawkmoon Band 1 – Das schwarze Juwel • Splitter Verlag, Bielefeld 2022 • 56 Seiten • Hardcover • € 16,00

Marvel Horror Classic Collection

In den 70ern hatten die US-amerikanischen Horrorcomicmagazine Creepy und Eerie aus dem Hause Warren Publishing bewiesen, dass die Ära des restriktiven Comics Code nur noch auf dem Müllhaufen der Geschichte eine Zukunft haben würde. Und wenn die Kleinen etwas erfolgreich vormachen, finden schon bald die Großen den Weg an den Tisch, und so brachte Marvel ebenfalls eine Flut an Horrortiteln auf den Markt. Gewürm und Verwestes tummelte sich in Reihen wie Astonishing Tales, Strange Tales, Supernatural Thrillers, Dead of Night und Bizarre Adventures oder bekam, wie die Universal-Horrorpioniere Dracula, Frankenstein und der Werwolf, sogar eigene Serien spendiert, wo sich ihre Wege gelegentlich mit Marvel-Superhelden kreuzten. Auf über 1300 Seiten wird in der Anthologie „Monster Horror Classic Collection“ ein Querschnitt aus dieser wilden Phase geboten, das Gros sogar als deutsche Erstveröffentlichung. Ein monströses Stück Comicgeschichte, dessen Edition noch vor zehn Jahren völlig undenkbar gewesen wäre.

Chris Claremont, John Buscema, Stan Lee u. a.: Marvel Horror Classic Collection • Panini, Stuttgart 2022 • 1332 Seiten • Hardcover • € 125,00

Diese Beiträge erschienen zuerst in der monatlichen Comic-Kolumne auf: DieZukunft.de

Sven Jachmann schreibt als freier Autor über Comic, Film, Literatur mit den Schwerpunkten Politik und Phantastik, ist Herausgeber der Magazine Comic.de und Filmgazette.de sowie Redakteur beim Splitter Verlag.